Medienphänomen Microblogging Macht twittern dumm, Herr Williams?

US-Senatoren blödeln auf Twitter wie Schulkinder, Firmenbosse dichten dümmliche Kalauer. Twitter-Chef Evan Williams hält seinen Dienst für demokratiefördernd - und will Twitter trotz Wirtschaftskrise weiter betreiben, ohne einen Cent zu verdienen. SPIEGEL ONLINE hat ihn besucht.

SPIEGEL ONLINE: Herr Williams, befeuert Twitter Narzissmus und Dummheit?

Williams: Bestimmt nicht, wie kommen Sie darauf?

SPIEGEL ONLINE: Als Präsident Barack Obama vergangenen Dienstag vor dem Kongress Probleme wie die Weltwirtschaftskrise und den Irak-Krieg besprach, schalteten einige US-Abgeordnete auf Durchzug - und twitterten lieber, hinter welchem Staatsmann sie saßen oder wer wie laut klatschte.

Williams: Okay, aber Twitter hat ja nicht die Persönlichkeit der Abgeordneten verändert, sondern nur Einblicke in ihre Intimsphäre ermöglicht. Ich finde das fantastisch: Erstmals erfahren wir, was Politiker während wichtiger Sitzungen denken und tun. Das ist eine Perspektive, die es so noch nie gegeben hat. Fernsehkameras können nicht in Köpfe hineinzoomen, Twitter schon …

SPIEGEL ONLINE: … und dabei traurige Einsichten zutage fördern. Manche Abgeordnete verhielten sich während der Obama-Rede wie gelangweilte Teenager im Matheunterricht. Ein Mitarbeiter des republikanischen Abgeordneten Joe Barton twitterte sogar, dass er gerade ein tolles Basketballspiel verpasse und stattdessen Nancy Pelosis süffisantes Grinsen ertragen müsse.

Twitter

Williams: Ich sage ja nicht, dass ich es im Einzelnen gut finde, was da geschrieben wurde. Aber dass es passiert ist, hat für Transparenz gesorgt. Das ist für manchen Abgeordneten sicher unvorteilhaft - aber eben auch demokratieförderlich.

SPIEGEL ONLINE: Die Medienberater von manch twitterndem Politiker dürften sich jedenfalls die Haare gerauft haben. Da predigt man jahrelang, wie man sich vor TV-Kameras verhält - und dann taucht ein neues Medium auf, und sofort tölpeln sich manche Politiker wieder in die PR-Falle.

Williams: Manche dürften das publizistische Potential Twitters unterschätzt haben. Dabei ist die Öffentlichkeit, die Twitter herstellt, für Politiker oder Stars eigentlich von Vorteil: Sie können ihre Geschichten direkt an ihre Anhänger senden, ohne eine mögliche Verfälschung durch die Medien in Kauf nehmen zu müssen …

SPIEGEL ONLINE: … oder sie twittern einfach Dinge, die keine vernünftige Zeitung je drucken würde. Das meiste, was auf Twitter kursiert, ist belangloses Geschnatter von zweifelhaftem Erkenntniswert.

Williams: Es ist mir ein Rätsel, warum von jedem neuen Medium verlangt wird, dass es uns plötzlich in Wesen verwandelt, die nur noch Weisheiten absondern. Auch auf Facebook, am Telefon oder beim Smalltalk im Café werden nur selten gehaltvolle Gedanken ausgetauscht, das stört komischerweise keinen mehr.

SPIEGEL ONLINE: Wenn ich schon am Telefon und im Café Belangloses rede, warum sollte ich es dann auch noch auf Twitter tun?

Williams: Weil ich die Möglichkeit habe, viele Menschen gleichzeitig mit meinen Gedanken zu erreichen. Außerdem: Wer sagt denn, dass belangloses Geschnatter wertlos ist? Es ist immerhin ein menschliches Grundbedürfnis, die eigenen Gedanken mit anderen zu teilen - und für die sind meine Gedanken gar nicht belanglos, weil ein persönliches Interesse besteht.

SPIEGEL ONLINE: Das mag für Privatpersonen zutreffen, aber was ist mit Verantwortungsträgern, deren Aussagen börsen- oder politisch relevant sind? Wenn Politiker, Firmenchefs und TV-Moderatoren, die sich in der Öffentlichkeit bisher hochseriös gegeben haben, plötzlich Kalauer reißen und die Softball-Erfolge ihrer Töchter twittern - untergraben sie dann nicht ihre eigene Glaubwürdigkeit?

Williams: Ich glaube nicht, dass es die Glaubwürdigkeit eines Verantwortungsträgers zerstört, wenn er sich von Zeit zu Zeit wie ein normaler Mensch verhält. Die bisherige mediale Inszenierung hat nur viel zu stark ausgeblendet, dass auch wichtige Menschen bisweilen profane Dinge tun oder denken. Vielleicht müssen wir in diesem Punkt einfach umdenken.

SPIEGEL ONLINE: Mit Verlaub, Medienprofis nutzen Twitter ebenso zur Selbstinszenierung. Sie können über den Dienst ungefiltert Botschaften senden, eine kritische Einordnung durch Journalisten entfällt dabei.

Williams: Diese Einordnung findet doch ohnehin statt. Öffentliche Personen, die auf Twitter die Realität verzerren, werden noch immer nachträglich dafür in den Medien an den Pranger gestellt. Richtig ist, dass Twitter ihnen eine Möglichkeit bietet, ihrerseits Dinge kritisch einzuordnen, wenn sie sich in den Medien falsch dargestellt fühlen.

SPIEGEL ONLINE: Noch in einem anderen Punkt wird Twitter nachgesagt, die Medienlandschaft zu verändern: Seit der Notlandung eines Passagierflugzeugs im New Yorker Hudson River ist viel davon die Rede, dass Twitter selbst die schnellen Online-Medien in punkto Geschwindigkeit überflügelt. In Sachen Genauigkeit lässt der Dienst dagegen zu wünschen übrig.

Williams: Twitter wird den klassischen Journalismus, der Hintergründe und Details liefert, nicht ersetzen. Allerdings können Journalisten die Plattform als Recherche-Tool nutzen. Sie können Hinweise finden, selbst Anfragen an die Twitter-Gemeinde stellen und sich Feedback für ihre Veröffentlichungen holen.

SPIEGEL ONLINE: Der TV-Sender Current TV experimentiert mit solchem Feedback. Nutzer können, während sie Sendungen sehen, über einen ins Bild eingebetteten Twitter-Feed Kommentare schicken. An sich ein hübsches Geschäftsmodell. Warum verlangen Sie dafür eigentlich von Current TV kein Geld?

Williams: Unser Fokus liegt derzeit darauf, das Produkt zu entwickeln. Dabei ist es strategisch sinnvoll, gegenüber Drittanbietern möglichst offen zu bleiben. Und wenn ein Konkurrent für uns unaufgefordert neue Wege findet, Twitter in TV-Kanäle, iPhone oder Blackberry einzubetten, profitiert das Produkt davon mehr, als wenn wir potentielle Erfinder schon in der Entwicklungsphase durch Gebühren vergraulen. Das heißt natürlich nicht, dass die Einbindung unsere Dienste immer gratis bleiben wird.

SPIEGEL ONLINE: Sie verdienen aber im Moment tatsächlich gar nichts, haben bislang überhaupt kein funktionierendes Geschäftsmodell - obwohl viele denkbar wären. Das kommt vor dem Hintergrund einer kollabierenden Weltwirtschaft schon etwas dekadent daher.

Williams: Wir sind nicht unter Zeitdruck. Wir haben erst kürzlich 35 Millionen Dollar neues Risikokapital erhalten, und unser Unternehmen arbeitet äußerst kostengünstig. Langfristig wird Twitter aber sicher unabhängig vom Investorenkapital. Es gibt eine Menge Möglichkeiten, Geld zu verdienen.

SPIEGEL ONLINE: Neben Gebühren für Einbettung in TV-Sendungen und andere Dienste wäre beispielsweise Keyword-Advertising à la Google möglich.

Williams: Das ist sicher ein denkbarer Weg. Aber es gibt bestimmt auch noch interessantere Möglichkeiten.

SPIEGEL ONLINE: Sie sagten, Sie wollen Twitter noch weiterentwickeln. Wie denn?

Williams: Wir machen uns aktuell Gedanken über eine Erweiterung, die dem Nutzer mitteilt, was in seiner unmittelbaren Umgebung passiert. Je nachdem, wo ich mich aufhalte, könnte ich dann etwa erfahren, dass ein paar Straßen weiter ein Feuer brennt.

Das Interview führte Stefan Schultz

Mehr lesen über

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten