Netzwerke für Nachbarn Online wird die Stadt zum Dorf
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Will sich Viktoria Rüpke eine Bohrmaschine ausleihen, kann sie fast 8000 Nachbarn um Hilfe fragen. Theoretisch. So viele Menschen leben im Hamburger Stadtteil Sternschanze auf gerade mal einem halben Quadratkilometer Fläche. Rüpke wohnt seit fast zwei Jahren hier - um etwas gebeten hat sie ihre Nachbarn aber noch nie.
Wer in ihrer Straße wohnt, weiß die 33-Jährige nicht genau. Selbst die Leute im Haus kennt sie kaum. Bis auf ein kurzes Hallo lässt man sich in der Regel in Ruhe. "Wie das in der Großstadt eben so ist", sagt Rüpke. Sie hat sich an die Anonymität gewöhnt.
Als sie im Januar einen Zettel von ihrem Nachbarn im Postkasten findet, wird sie trotzdem neugierig. "Ich möchte euch gerne einladen, uns gegenseitig besser kennenzulernen und unsere Nachbarschaft etwas zu stärken", steht darauf. "Dafür gibt es das Online-Netzwerk nebenan.de , das nur für echte Nachbarn ist."
Rüpke meldet sich mit dem mitgelieferten Zugangscode auf der Website an. "Ich fand den Gedanken dahinter nett - zu wissen, wer hier überhaupt wohnt und was so los ist", sagt sie.
Grillfeste planen, Babysitter suchen
Darauf zielen Netzwerke wie nebenan.de ab: Nachbarn vernetzen sich online, um sich offline besser kennen zu lernen. Sie können Grillfeste planen, Ärzte empfehlen oder Babysitter in der Nachbarschaft suchen - auf einer Art digitalem schwarzen Brett für die nähere Umgebung.
Wer mitmachen will, muss beweisen, dass er in der Nachbarschaft wohnt, indem er ein Dokument mit seiner Adresse einscannt oder den Zugangscode des Flyers oder einer Postkarte eingibt, die er sich zuschicken lässt. So wollen die Initiatoren für ein "sicheres und privates Umfeld" sorgen. Auch Google oder Facebook würden nicht reinkommen, steht auf dem Handzettel: "Inhalte können von außen nicht mitgelesen werden."
In ihrem Profil geben die Nutzer ihre Interessen an und wie sie ihren Nachbarn helfen können. Besonders beliebt: "Für ältere oder kranke Nachbarn einkaufen gehen", "Blumen gießen" und "Pakete annehmen". Es gibt einen Veranstaltungskalender und einen Marktplatz, auf dem Meerschweinchensitter oder eine Akku-Grasschere gesucht werden.
Wer schreit im Hinterhof?
In der Kategorie "Beiträge" wird nach einem Mann gefahndet, der nachts den Hinterhof mit lauten Schreien beschallt. Antwort: "Handelt es sich nicht um die Frau, die zu jeder Zeit lautstark nach ihrer Katze schreit und pfeift?" In den Netzwerken wird die Stadt zum Dorf.
Auch andere Portale wie Nachbarschaft.net und WirNachbarn wollen Nachbarn näher zusammenbringen. Das Prinzip ist das gleiche wie das von nebenan.de: Echte Nachbarn mit echten Namen lernen sich kennen, tauschen sich aus und unterstützen sich.
Neu ist die Idee indes nicht. So gibt es etwa auf Facebook viele lokale Gruppen. Und bereits 2010 wurde in den USA das Nachbarschaftsnetzwerk Nextdoor gegründet, das mit derzeit 108.000 bestehenden Nachbarschaften wirbt.
Zum Vergleich: Das Start-up WirNachbarn ist seit 2014 online und hat nach eigenen Angaben 6800 Nutzer und 1650 Nachbarschaften, die meisten davon in Berlin und Köln. Nebenan.de wurde ein Jahr später gegründet und gibt an, in rund 30 deutschen Städten aktiv zu sein. Zwischen 50 und 600 Nachbarn seien jeweils in mehr als 1000 bestehenden Nachbarschaften vernetzt.
Bei Nextdoor informieren Nachbarn sich über Einbrüche
Wie die Amerikaner finanzieren sich die deutschen Start-ups derzeit hauptsächlich aus Investorengeldern - Burda etwa ist seit kurzem an nebenan.de beteiligt. Ein strategisches Investment, die Nutzung ist für Privatleute gratis.
Für Unternehmen könnte es zukünftig kostenpflichtige Profile geben: "Auf Dauer werden wir lokal ansässigen Unternehmen in angemessenem Maße Werbemöglichkeiten zur Verfügung stellen", heißt es von WirNachbarn. Auch nebenan.de will "Einnahmen mit Institutionen, wie beispielsweise dem lokalen Einzelhandel, erzielen".
Es gibt aber auch Unterschiede zu US-Portalen - etwa, was die Gründe angeht, warum sich Nachbarn in dem Netzwerk zusammentun: "Um schnell über einen Einbruch in der Nachbarschaft zu informieren", nennt Nextdoor als Motivation Nummer eins. Und als zweiten Grund: "Um eine Neighborhood Watch Group auf die Beine zu stellen". Gemeint ist damit eine jener privat organisierten Gruppen in den USA, die in der näheren Umgebung für Sicherheit sorgen sollen.
Das Ziel: hyperlokaler Journalismus
In deutschen Netzwerken spielt Sicherheit eine untergeordnete Rolle. Zwar gibt es auf der Startseite von WirNachbarn die Rubriken Polizei, Feuerwehr und Öffentliche Verwaltung, wo Anwohner künftig zum Beispiel vor Einbrüchen gewarnt werden können. Laut einer Sprecherin sind diese aber noch im Aufbau. Auch nebenan.de arbeitet derzeit noch nicht mit öffentlichen Einrichtungen zusammen. "Aber als mögliches zukünftiges Szenario ist das nicht auszuschließen", so eine Mitgründerin.
Nachbarschaftsnetzwerke hätten damit das Zeug, zu hyperlokalen News-Portalen zu werden. Ähnlich nutzt Viktoria Rüpke aus der Hamburger Schanze das Netzwerk nebenan.de schon jetzt: Sie will wissen, was in ihrem Viertel los ist - etwa wenn eine Straße wegen einer Baustelle gesperrt wird oder welches Geschäft in den leerstehenden Laden unten an der Ecke einzieht.
Gepostet hat Rüpke bisher noch nichts. "Oft enden Einladungen zu Grillfesten oder zum Kaffeetrinken in Diskussionen darüber, wer die lactosefreie Milch mitbringt oder wer warum nicht kommen kann - und ob man das Ganze nicht doch noch mal verschiebt", sagt Rüpke. "Das sind für mich Chats aus der Hölle."
Nachbarschaftsnetzwerke wollen den Lebensraum in der Stadt mitgestalten und besser machen. Haben Sie auch einen Vorschlag, der Leben in die Straße bringt? Dann machen Sie mit beim Social Design Award. SPIEGEL ONLINE und SPIEGEL WISSEN suchen "Gute Ideen für unsere Straße". Eine Jury kürt einen Sieger, und die Leser von SPIEGEL ONLINE und SPIEGEL WISSEN bestimmen den Gewinner des Publikumspreises. Beide Preise sind mit jeweils 2500 Euro dotiert. Die Einreichungsfrist läuft bis zum 31. August 2016.