Netz-Debatte "Das Internet" gibt es nicht

Es wird viel geschimpft auf "das Internet" in diesen Tagen. Es macht dumm, es ist der Feind des Geistes, es tut demokratisch, ist es aber nicht, behaupten seine Kritiker. Alles Quatsch, findet Christian Stöcker - "das Internet" existiert gar nicht.

Man stelle sich folgende Situation vor: Ein junger Mann mit Hornbrille geht am frühen Abend in ein Lokal. Er stellt sich neben einen Tisch, an dem eine bereits angeheiterte Herrenrunde sitzt und hört eine zeitlang zu, was dort gesprochen wird. Dann steigt er auf einen Stuhl und ruft: "Ich habe eben gehört, dass Intellektuelle hier als überflüssige Klugscheißer bezeichnet werden! Über die letzten Bastionen sachkundiger Meinungsbildung ergießt sich hier Abscheu!"

In wohlgesetzten Worten und mit klarer Stimme fährt der junge Mann fort, minutenlang zu erklären, dass er nun den Beleg für eine langgehegte Vermutung habe: Deutschland sei eine Land ohne jede Kultur, ein Ort, von dem die Intellektuellen sehr bald für immer verschwinden würden.

Die übrigen Kneipengäste murren und pfeifen. Da springt dem jungen Mann ein älterer Herr bei. Er ruft in den Saal, hier sehe man einmal mehr den für dieses Land typischen Fanatismus. Er spricht von "Schwarm-Dummheit", "Bolschewismus" und der "Diffamierung und Verfolgung Andersdenkender".

"Pisa-Katastrophe zur Norm erhoben"

Natürlich ist die Geschichte erfunden. Aber etwas Ähnliches ist in den vergangenen Wochen passiert - auf den Internet-Seiten der "Zeit".

Der "Zeit Magazin"-Redakteur Adam Soboczynski hatte (im Blatt und online) einen Artikel veröffentlicht, der mit "Das Netz als Feind"  überschrieben war: im Kern eine wortreiche Publikumsbeschimpfung, in der Internet-Nutzern pauschal "Anti-Intellektualismus" und "Bildungsfeindlichkeit" vorgeworfen wurden. Erwartungsgemäß liefen unter der Web-Version des Artikels teils höflich kritische, teils lobende und teils hämische Kommentare auf.

In der Woche darauf antwortete Gero von Randow , Zeit-Redakteur und ehemaliger Chef von "Zeit online", im Blatt auf Soboczynski und attestierte ihm in einem klugen, bescheidenen Text Hochmut und "Netzwut".

Andernorts  waren die Reaktionen deftiger, einige der Beschimpften kritisierten den Autor in Blog-Einträgen mit deutlichen Worten. "Zeit"-Feuilletonchef Jens Jessen sprang seinem Autor  deshalb in der Ausgabe von vergangener Woche bei: In den Reaktionen auf Soboczynskis Artikel zeige sich "Netzfanatismus", "ein egalitärer Relativismus, der kein Mehr- oder Besserwissen dulden kann", ja "E-Bolschewismus". Schlimmer noch, das Ganze sei ein Symptom der Verdummung: "Die Pisa-Katastrophe, überall sonst beklagt, ist im Netz zur Norm erhoben worden."

Ist das Internet großmäulig?

Diese Art von Pauschalurteil ist in deutschen Blättern in den vergangenen Jahren zum Mainstream geworden. "Das Internet verkommt zum Debattierclub" (Bernd Graff, "Süddeutsche Zeitung"), "Das Netz ist auch ein Medium, das in steigendem Maße Nicht- oder Fastnichtmehrlesen ermöglicht" (Frank Schirrmacher, "Frankfurter Allgemeine Zeitung"), "Internet-Blogs zersetzen das informierte und unabhängige Urteil" (Josef Schnelle, "Berliner Zeitung"). Bei Jens Jessen in der "Zeit" wird das Internet sogar zur handelnden Person: "Das Internet, bevor es großmäulig von E-Democracy redet, muss erst einmal eine angstfreie Gesellschaft in seinen Räumen erlauben."

All die Thesen, Behauptungen und vermeintlichen Beobachtungen über das Internet als solches sind nicht falsch im engeren Sinne: Sie sind schlicht sinnlos. Ebenso sinnlos wie die Versicherung, Papier und Tinte seien in Wahrheit gar keine Kraft des Guten. Ebenso sinnlos wie der auf einem belauschten Kneipengespräch basierende Vorwurf, Deutschland sei ein Land voller Dummköpfe.

Kein Zweifel: Das Internet existiert, und es wird auch nicht wieder verschwinden. "Das Internet" aber, wie es Jessen, Soboczynski, und all die anderen Autoren immer wieder kritisieren und attackieren, existiert nicht. "Das Internet" als ein mehr oder minder homogenes Gebilde nämlich, in dem bestimmte Regeln gelten (oder eben nicht), in dem bestimmte Verhaltensweisen angeblich ständig zu beobachten sind, in dem sich angeblich eine bestimmte Spezies Mensch tummelt, der (fast) nichts heilig ist. Eine Spezies, die aber irgendwie trotzdem eine "Netzbewegung" mit "hermetischem Vokabular" gebildet haben soll, die andere ausschließen will, wie Susanne Gaschke vor einigen Wochen in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" bemängelte.

Wikipedia und Kinderpornografie

Tatsächlich enthält das Internet (zum Beispiel): Die größten Wissenschaftsdatenbanken, die es jemals gegeben hat; einen gewaltigen Fundus an frei zugänglicher, teils durchaus schwer verdaulicher Weltliteratur; frei zugängliche Satellitenbilder der gesamten Erdoberfläche; eine kostenlose Filmdatenbank, die das "Lexikon des internationalen Films" wie ein Reclam-Heftchen aussehen lässt; Spezialforen für jedes noch so exotische Thema, in denen man von freundlichen Fachleuten kostenlosen Rat bekommt; Strukturen, die es ermöglicht haben, mit Hilfe ehrenamtlicher Helfer das Monopol des größten Softwareherstellers der Welt zu brechen; eine erstaunlich gute, extrem umfassende Online-Enzyklopädie, geschaffen von Freiwilligen.

Es enthält aber auch: Kinderpornografie; Bombenbauanleitungen; Versammlungsorte für Menschen mit Essstörungen, Selbstmordabsichten, abseitigen sexuellen Phantasien, terroristischem Hintergrund; grauenvolle Bilder verstümmelter, sexuell erniedrigter oder getöteter Menschen; triviale, langweilige, dämliche, rassistische, antisemitische, sexistische, menschenverachtende Texte noch und nöcher.

Beide Listen lassen sich nahezu beliebig fortsetzen.

Monolithische Wahrnehmung, komplexer Gegenstand

"Das Internet" als Ganzes zu loben oder zu kritisieren ist ebenso sinnvoll wie Papier zu loben oder zu kritisieren, weil darauf ja einerseits das Grundgesetz und "Faust" erschienen sind, andererseits aber auch "Mein Kampf" und Gewaltpornografie.

Diejenigen, die sich heute über "das Internet" erregen, wissen das vermutlich im Grunde. Sie meinen mit ihren Angriffen wohl auch gar nicht wirklich das Medium, sondern dessen Nutzer. Doch auch die pauschal zu kritisieren ist in etwa so sinnvoll, wie die Einwohner von Deutschland pauschal als Dummköpfe zu bezeichnen - denn fast alle, zumindest unterhalb eines gewissen Alters, sind heute Internet-Nutzer.

Solange diese monolithische Wahrnehmung des vermutlich komplexesten Gebildes der Menschheitsgeschichte hierzulande fortbesteht, solange wird das Gespräch über den Wandel und seine Folgen notwendigerweise platt, polemisch und wütend bleiben, dabei aber kaum Erkenntnisgewinn mit sich bringen.

Dass es auch anders geht, hat Heribert Prantl, Politik-Chef der "Süddeutschen Zeitung" übrigens eben gezeigt: "Man sollte endlich damit aufhören, Gegensätze zu konstruieren, die es nicht gibt", so Prantl in einem lesenswerten Stück   (einem Vortragsauszug) über die Zukunft des Journalismus on- und offline. Er fordert von seinem Berufsstand "Leidenschaft statt Larmoyanz".

Es gibt, das nebenbei, einen Grund dafür, dass viele Printjournalisten eine gewisse Neigung dazu entwickelt haben, auf das "Netzvolk" mit leiser Verachtung herabzublicken. Der Grund hat wenig mit den Nutzern des Internets zu tun und viel mit dem, was Ökonomen Transaktionskosten nennen: Es ist sehr viel einfacher (und billiger), einen Kommentar unter einen online erschienenen Artikel zu setzen oder eine Lesermail zu schreiben, als einen Brief zu tippen, auszudrucken, in einen Umschlag zu stecken, diesen korrekt zu adressieren, mit einer Briefmarke zu versehen und in einen Briefkasten zu stecken.

Meckernde Leserbriefschreiber waren Journalisten noch nie sympathisch. Nun gibt es, gesunkenen Transaktionskosten sei Dank, wesentlich mehr davon. Wo viel Feedback ist, da ist auch viel Kritik, zum Teil aggressive, pöbelnde, gemeine. Oder anders gesagt: So mancher Autor muss nun endlich erfahren, was manche seiner Leser wirklich von ihm halten. Und das kann weh tun.

"Das Internet" aber kann nichts dafür. Denn das gibt es gar nicht.

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