Netzkunst Parallel-Museum
Im SPIEGEL-ONLINE-Gespräch verrät Glenn D. Lowry, Direktor des Museum of Modern Art (MoMA) in New York, warum das Internet das Beste ist, was der Kunstwelt seit langem widerfahren ist. Das MoMA ist seit April 1996 im Web. Dieses Jahr wurde das Museum von der internationalen "Museums and the Web Conference" in Toronto zur besten Museumsseite der Welt gekürt.
SPIEGEL ONLINE: Wie geht das Geschäft? Ist der Online Store schon erfolgreich?
Glenn Lowry: Es läuft ganz gut. Wir haben das Online-Geschäft erst vor einem Monat gestartet, und es bringt inzwischen schon einige tausend Dollar pro Woche. Wir glauben, der Shop wird sich zu einer wichtigen Einkommensquelle für das Museum entwickeln.
SPIEGEL ONLINE: Sehen Sie das Internet vor allem als Marketinginstrument und Besucherservice, oder haben Sie eine weitergehende Vision?
Glenn Lowry: Ich habe vor, eine parallele Museums-Institution im Cyberspace zu schaffen. Eine Institution, die das Museum of Modern Art nicht bloß nachahmt oder verdoppelt, sondern eine, die unsere Ideen und Interessen mit den Möglichkeiten der digitalen Welt neu interpretiert und erforscht. Unsere ganze Anstrengung gilt im Augenblick der Formulierung und Reformulierung der Inhalte einer solchen parallelen Institution im Netz ...
SPIEGEL ONLINE: ... die sich ausschließlich mit Online-Kunst beschäftigen würde?
Glenn Lowry: Die sich ausschließlich mit moderner und zeitgenössischer Kunst, wie sie vom Museum of Modern Art wahrgenommen und verstanden wird, beschäftigen würde. Wir arbeiten mit einigen Künstlern an der Entwicklung digitaler Kunstwerke, die im Netz erlebt und erforscht werden können - obwohl sie nicht unbedingt ausschließlich netzspezifisch sein müssen.
Ich bin aber nicht in erster Linie daran interessiert, digitale Kunst zu schaffen und in Auftrag zu geben, sondern zu erkennen, daß das Internet diesem Museum die einzigartige Gelegenheit gibt, ein viel größeres Publikum anzusprechen als wir je hatten - und zwar auf eine neue und kreative Art, die sich von der bekannten Museumserfahrung unterscheidet. Letztes Jahr kamen, zum ersten Mal in unserer Geschichte, über das Internet mehr Leute ins Museum als durch unsere Türen.
SPIEGEL ONLINE: Die Besucherzahl ist also gestiegen durch die Website?
Glenn Lowry: Ja. Unglaubliche 46 Prozent unserer Besucher im letzten Jahr waren zum ersten Mal hier. 30 Prozent waren aus dem Ausland. Die Mehrheit war unter 35. Dieses jüngere, heterogenere, internationalere Publikum, das da zum ersten Mal ins Museum kommt, spiegelt die Tatsache wider, daß viele Leute uns im Internet kennenlernen und neugierig werden.
SPIEGEL ONLINE: Was für Reaktionen bekommen Sie auf Ihre Website? Welche Angebote sind der Renner?
Glenn Lowry: Zunächst einmal ist unsere Website kürzlich zur besten Museumsseite der Welt gekürt worden. Unsere Erfahrung zeigt, daß die Leute vor allem detaillierte Informationen wollen, sei es, über Teile unsere Sammlung, sei es, über eine bestimmte Ausstellung, oder beim Gebrauch unserer Suchmaschine "Dadabase". Es geht also in erster Linie um Bildung, um Wissen, um Inhalte.
SPIEGEL ONLINE: Wie erweitert oder revolutioniert das Internet die Museumserfahrung?
Glenn Lowry: Es unterstützt vor allem die Museumserfahrung. Und zwar nicht nur das Internet, sondern alle digitalen Technologien, die uns erlauben, Informationen über Kunst vielfältiger und genauer darzubieten, als traditionelle Kataloge oder Audio-Führer es je könnten.
SPIEGEL ONLINE: Aber fördert diese "parallele Institution" nicht auch einen ganz anderen Ansatz zur Kunst? Statt der Museumsregel "Ansehen, aber nicht anfassen" heißt es plötzlich "Ansehen, anfassen, spielen" - ein Ansatz, der viel persönlicher und interaktiver ist?
Glenn Lowry: Richtig. Das Werk von Peter Halley auf unserer Website ist ein gutes Beispiel dafür. Es bietet jedem die Gelegenheit, sein eigenes Kunstwerk zu schaffen und auszudrucken. Solche Online-Projekte wollen wir auf jeden Fall ausbauen. Aber das ist nicht der Hauptgrund für unser Engagement im Netz. Ich sehe das Internet nur als Hilfsmittel, nicht als einen Zweck in sich. Es ist einfach ein weiteres Hilfsmittel für kulturelle Einrichtungen, ihr Programm zu verbreiten.
SPIEGEL ONLINE: Es hilft jedenfalls, die Diskussion über und um die Kunst am Laufen zu halten und noch mehr anzufachen. Daran mußte ich denken, als ich die Reiseberichte aus Rußland und China von Ihrer Video-Kuratorin Barbara London gelesen habe.
Glenn Lowry: Absolut. Das ist eine weitere Dimension des Internets, die ich entwickeln möchte: Wir können unsere Forschung mit dem Publikum teilen, und zwar während sie durchgeführt wird. Diese Reiseberichte auf unserer Website sind nichts anderes als Londons Notizen, die sie täglich in Rußland und China gemacht hat. Sie hat sich mit Künstlern getroffen, deren Umfeld erforscht, über verschiedene Video-Kunstwerke nachgedacht. All das haben wir einfach ins Netz gestellt, statt es in ihrem Notizbuch vergammeln zu lassen.
SPIEGEL ONLINE: Zurück zur Online-Kunst: Ist die nicht schon durch die Anforderungen des Mediums sehr begrenzt? Widerspricht der Netzimperativ "benutzerfreundlich" nicht einem der Hauptzwecke von Kunst, nämlich herauszufordern und zum Denken anzuregen?
Glenn Lowry: Das ist ein sehr enger Begriff von zeitgenössischer Kunst. Kunst, meine ich, spielt verschiedene Rollen. Nicht alle Kunst ist absichtlich herausfordernd, störend oder provozierend ...
SPIEGEL ONLINE: ... Kunst kann auch unterhalten...
Glenn Lowry: ... sie kann erfreuen, sinnlich sein, schön sein. Sie kann verschiedene Bedeutungen haben. Ich glaube, daß Künstler, deren Arbeit auf Unterbrechung, Herausforderung und Störung beruht, ihr Verständnis von Raum und Ideen auch auf das Netz ausdehnen koennen. Und ich glaube nicht, daß das Format einer Webpage oder des Netzes sie in irgendeiner Weise behindern wird, genausowenig wie das Museumsformat je einen Kuenstler gehindert hat, die Institution zu kritisieren.
Künstler sind mehr als fähig, jedes Hindernis, das ein Medium aufstellen könnte, zu überwinden.
Außerdem bin ich nicht überzeugt, daß das Internet nur poliert, verfeinert und perfekt ist. Es ist ein durchaus anarchisches Milieu, und viele interessante Sachen im Netz sind roh und ungeschliffen.
SPIEGEL ONLINE: Können Künstler diese Anarchie nutzen, um die kommerzielle Kunstwelt zu umgehen, die gewisse Eintrittsschranken errichtet hat?
Glenn Lowry: Nicht auf kurze Sicht. Das Internet ist einfach noch nicht so weit. Es gibt keine kritische Masse von Leuten, für die das Netz die erste Adresse ist, um etwas über Kunst herauszufinden. Und auch Künstler beginnen gerade erst, das Internet als Ort für ihre Aktivität zu entdecken. Im Augenblick ist das nicht die wichtigste und interessanteste Entwicklung aus unserer Perspektive.
Aber auch langfristig wird das Internet den Markt nicht ersetzen. Es mag ihn verbessern, verfeinern und neue Zugänge öffnen, aber es wird den Markt nicht ersetzen.
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