Noga Arikha Der Verlust der Stille in Zeiten des Netzes

Langsamkeit, Ruhe, und Stille sind verschwunden, schreibt die Historikerin Noga Arikha über die Wirkungen des Internets - aber nur für manche von uns. Für Millionen ist das Netz weder alltäglich noch allgegenwärtig. Arikha fordert Aufmerksamkeit für Technikgeschichte - auch in der Schule.
Historikerin Arikha: Menschen passen sich geschickt an Technik an

Historikerin Arikha: Menschen passen sich geschickt an Technik an

Ich erinnere mich noch daran, wie ich während meines ersten Studienjahres Essays auf einer heißgeliebten Schreibmaschine schrieb. Dann kam der erste Computer, der erste E-Mail-Account, der langsame, aber fließende Eintritt in eine neue digitale Welt, die sich merkwürdig natürlich anfühlte. Der Anbruch des Internetzeitalters vollzog sich schrittweise; wir sahen, wie es sich als Ausgeburt vieler Gehirne wie ein Kind entwickelte, ein wandelbares Tier, dessen Eigenschaften zugleich vorhersagbar und unbekannt waren. Sobald die digitale Sphäre zu einer weltweiten Realität und als neues Zeitalter erkennbar geworden war, nahm die Zahl der Vorhersagen und Analysen zu. Edge selbst entstand, als dem Geschöpf immer noch neue Gliedmaßen wuchsen. Die Forschungs- und Kommunikationsinstrumente zu dieser Forschung entwickelten sich gemeinsam mit einem neuen Denken über die Interaktion von Geist und Maschine, über die Zukunft der Bildung, über die Auswirkungen des Internets auf Texte und das Schreiben, über die Themen des Filterns, der Relevanz, des Lernens und des Gedächtnisses.

Dann wurde das Geschöpf irgendwie autonom und zu einem gewöhnlichen Teil unserer Welt. Wir sind nicht mehr überrascht und beschäftigen uns nicht mehr mit so viel Metaanalyse. Wir sind abhängig. Manche von uns sind süchtig nach diesem Wunderinstrument, diesem vielseitigen Medium, das - wie man schon vor zehn Jahren vorhersagte - alle Kommunikation, alles Wissen, alle Unterhaltung und alle Geschäfte konzentriert. Wie viele von uns verbringe ich so viele Stunden vor einem Computerbildschirm und tippe drauflos, auch wenn ich von zahllosen Büchern umgeben bin, dass sich schwer sagen lässt, wie das Internet mich beeinflusst hat. Das Internet wird zu etwas so Gewöhnlichem wie das Telefon. Menschen passen sich geschickt an die Techniken an, die sie erfinden, und das Internet ist die formbarste, die menschlichste aller Techniken - so wie es uns auch von allem entfremden kann, was wir in der Vergangenheit erlebt haben.

Schneller, lauter, unverbunden mit der Natur

Ich schwanke zwischen folgenden beiden Positionen: Manchmal bin ich in Dankbarkeit von diesem Wunderwerk abhängig und manchmal entsetzt darüber, was diese Abhängigkeit bedeutet. Zu viel an einem Ort konzentriert, zu viel vom eigenen Haus aus zugänglich, das Bedürfnis, sich in der wirklichen Welt zu bewegen, nahezu null, die schnelle Etablierung von Websites für soziale Netzwerke, die unsere Beziehungen verändern, die Reduktion der Dreidimensionalität auf den flachen Bildschirm. Schnelligkeit, Zugänglichkeit, ein Klick für alles: Wohin sind die Langsamkeit und die Stille, die Einsamkeit, die Ruhe verschwunden? Die Welt, die ich als Kind für selbstverständlich hielt und die meine Kinderbücher so schön darstellten, stößt sich mit der brandneuen Welt von künstlich grellem Licht und elektrisch erzeugten Realitäten - schneller, lauter, unverbunden mit der Natur, in sich geschlossen.

Die von uns geschaffenen Techniken haben zwar immer Auswirkungen auf die wirkliche Welt, aber selten nur hatte eine Technik einen solchen Einfluss auf den Geist. Wir wissen, was mit denen geschieht, die nach dem Aufkommen des Internets geboren wurden; für diejenigen, die wie ich mit Schreibmaschinen, Büchern, der Langsamkeit und einer Wirklichkeit anfingen, die durch geographische Entfernungen und örtliche Uhren gemessen wurde, ist die entstehende Welt in der Tat ganz anders als die Welt, die wir kannten.

Ich gehöre zu jener Generation, für die die Anpassung an Computer zwar willkommen und leicht war, für die jedoch das Zeitalter vor dem Internet real bleibt. Ich kann jene verstehen, die das Radio "Rundfunk" nennen, und ich bewundere Menschen mit siebzig oder achtzig Jahren, die über E-Mail kommunizieren, weil sie einen noch längeren Weg zurückgelegt haben. Vielleicht bestünde der Weg in die Zukunft darin, den Geschichtsunterricht in der Schule stärker zu betonen, Lehrpläne zur Technikgeschichte zu entwickeln, die Kinder von heute daran zu erinnern, dass ihre Technik, so allumfassend sie sich auch anfühlen mag, doch relativ ist, und nicht das gesamte Universum darstellt. Millionen von Kindern auf der ganzen Welt brauchen daran nicht erinnert zu werden - sie haben überhaupt keinen Zugang zur Technik, viele sogar nicht einmal zu moderner Klempnerarbeit - aber die, die eine solche Erinnerung nötig haben, sollten wissen, wie dieses Werkzeug historisch und politisch einzuordnen ist.

Was mich angeht, so lerne ich, für das Bedürfnis, langsamer zu werden und abzuschalten, Raum zu schaffen, ohne meine Abhängigkeit von Google, E-Mail und der Schnelligkeit aufzugeben. Ich hatte Glück genug, von anderswo herzukommen, aus einer Zeit, als Informationen noch nicht digitalisiert waren. Und dies ermöglicht es mir vielleicht, das Internet mit einem gewissen Maß Weisheit zu nutzen.

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