
S.P.O.N. - Die Mensch-Maschine Zehn Lehren aus der Spähaffäre

Mit der Überwachung der Bundeskanzlerin ist die Empörung dort angekommen, wo sie hätte sein sollen, seit die Überwachung von Millionen Bürgern bekannt wurde. Verhindert hat das zuvor die Kanzlerin selbst, die ein Beschwichtigungskonzert aufführen ließ. Ronald "vom Tisch" Pofalla und Hans-Peter "in Luft aufgelöst" Friedrich hat das ihre politische Glaubwürdigkeit gekostet. Ihre Rücktritte wären überfällig, sind aber wegen des Mangels an politischem Schamgefühl unwahrscheinlich.
Ebenso verstörend: Die gleiche Öffentlichkeit, die wegen der Merkel-Überwachung bestürzt ist, hatte die Ausspähung ihrer eigenen Kommunikation kaum gerührt. Rätsel Bürger. Aber "besser späh als nie" , der politikaktivierende Druck der Öffentlichkeit wird jetzt dringend gebraucht. Denn Empörung ist wertlos, wenn keine konkreten Konsequenzen gezogen werden, und zwar entlang der wichtigsten durch Edward Snowden gewonnenen Erkenntnisse.
1. Geheimdienstreform
Erkenntnis: Die Überwacher haben jedes rechtsstaatliche Maß verloren und lügen, um dies zu kaschieren.
Konsequenz: Ein No-Spy-Abkommen mag diplomatisch sinnvoll sein. Ohne begleitende Maßnahmen wird es die gleiche Wirkmacht entfalten wie das Foto eines Hammers auf einen Nagel. Leider erfordern diese Maßnahmen nicht die Abschaffung von Nachrichtendiensten, sondern deren Stärkung auf europäischer Ebene. Vertretbar ist das allerdings erst nach radikalen Reformen.
2. Kontrolle deutscher Dienste ausbauen
Erkenntnis: Viel deutet darauf hin, dass deutsche Dienste in die grundrechtsignorierende Bürgerüberwachung verstrickt sind.
Konsequenz: Mit der digitalen Vernetzung haben sich die Überwachungsmöglichkeiten exponentiell vergrößert. Die Kontrolle aber besteht im Wesentlichen aus dem gleichen Parlamentsausschuss wie vor 30 Jahren. Man wäre nicht überrascht, wenn Pofalla den Abgeordneten NSA-Faxe per Rohrpost weiterleitete. Die demokratische Überwachung der Überwacher muss gesetzlich, technisch und personell dramatisch gestärkt werden.
3. Spionageabwehr stärken, Verfassungsschutz abschaffen
Erkenntnis: Zehn Jahre Handyüberwachung der Kanzlerin zeigen: Die Spionageabwehr der Bundesrepublik ist unfähig oder schlimmer, verschließt gezielt die Augen.
Konsequenz: Für digitale Spähabwehr zuständig ist der Verfassungsschutz, der schon durch sein Radikalversagen in Sachen NSU-Terror auffiel. In seiner jetzigen Form schafft der Verfassungsschutz offenbar kaum mehr, als vor Punkbands zu warnen. Bestenfalls scheint er wirkungslos, schlechtestenfalls ist er selbst eine Gefahr. Abschaffen.
4. Massive Sanktionen bei Wirtschaftsspionage
Erkenntnis: Wirtschaftsspionage ist eine zentrale Aufgabe der Geheimdienste.
Konsequenz: Der wirtschaftliche Vorteil der Spionage muss durch Druck und Verträge im gleichen Bereich unattraktiv gemacht werden. Sanktionen bei Verstößen gibt es genug. Denn in keinem Bereich ist die weltweite gegenseitige Abhängigkeit so groß wie in der Wirtschaft, und das kann ein Machtinstrument sein. Erst recht auf EU-Ebene. Der Safe-Harbour-Pakt mit den USA muss aufgekündigt werden. Er dient als Deckmantel für Rechtsverstöße in den USA, statt dem Schutz von EU-Bürgern. US-Firmen verletzen die Auflagen seit Jahren ohne Konsequenzen.
5. Großbritannien in der EU ignorieren
Erkenntnis: Camerons Großbritannien ist auf einem höchst problematischen Weg.
Konsequenz: Der britische Geheimdienst späht in Brüssel die EU aus, schert sich zugunsten einer NSA-Kooperation nicht um das restliche Europa, schließlich attackiert die Regierung Cameron die Pressefreiheit aggressiv . Vielleicht treffen es die Worte von EU-Kommissarin Viviane Reding zum Thema Datenschutz am besten: "Ich kümmere mich nicht mehr um die Briten, das ist verloren."
6. Smartphone-Verschlüsselung fördern
Erkenntnis: Jedes Mobiltelefon ist bis auf weiteres als potentielle Wanze zu betrachten.
Konsequenz: Günter Guillaume ist heute ein Handy. Und zwar ein unverschlüsseltes. Die durchgehende Verschlüsselung von relevanter Kommunikation muss hardware-, software- und betreiberseitig zum Standard werden. Und zuvor in Richtung menschenwürdige, einfachste Benutzbarkeit hingehämmert werden.
7. EU-Netzstandards schaffen
Erkenntnis: Die Infrastrukturen der digitalen Sphäre sind mit Hintergedanken technisch und territorial US-fixiert.
Konsequenz: Die Stärkung der europäischen Digitalinfrastruktur ist notwendig, also Glasfaserverkabelung, Netzplattformen und Software. Sowie Hardware, einer unterschätzten Komponente des Spähuniversums. Ein nationales "schland.net" ist Unfug, aber gemeinsame EU-Strategien zur Vereinbarkeit von sozialer Technologie, digitaler Gesellschaft und Grundrechten nach europäischem Verständnis nicht.
8. Alternativen zu US-Netzkonzernen erproben
Erkenntnis: Technische Paranoia, früher das Privileg nerdiger Verschwörungstheoretiker, entspricht inzwischen der Netznormalität: Überwacht werden ist default.
Konsequenz: Wir leben nicht in einem Überwachungsstaat, sondern in einer Überwachungswelt. Sie heißt Internet. Die großen Netzkonzerne müssen als Janusköpfe gesehen werden, die das digitale Leben der Nutzer einfacher machen mögen - aber um den Preis der Totalüberwachung. Auch hier müssen europäische Alternativen aufgebaut werden, selbst wenn niemand weiß, wie und ob das konkret funktioniert. Trotzdem versuchen.
9. Für Grundrechte kämpfen
Erkenntnis: In der digitalen Gesellschaft sind Grundrechte brüchiger als zuvor.
Konsequenz: Umso stärker muss gesellschaftlich und politisch für den Grundrechtsschutz eingetreten werden. Was auch heißt, der bürgerüberwachenden Sicherheitshysterie unter Innenpolitikern aller Parteien Grenzen aufzuzeigen. Und das auch noch international, denn entscheidend wird die europäische Ebene sein.
10. Die Realität akzeptieren und ändern
Erkenntnis: Obama ist - ob aus Überzeugung oder Druck - ebenso nationalistisch eingestellt wie mehr oder weniger alle US-Präsidenten zuvor. Er wirkt dabei bloß cooler.
Konsequenz: Keine, außer dass man mit der enttäuschten Hoffnung zurechtkommen muss, Obama würde seinen eigenen Versprechungen gerecht. Oder seinem Friedensnobelpreis. Aber Nationalismus bleibt der Furunkel am Po der Völker, egal von wem er ausgeht.
Die digitale Gesellschaft hat mit Edward Snowdens Hilfe ihre vermeintlich turbulente Pubertät beendet und musste über Nacht erwachsen werden. Zum Glück, denn sie steht gewaltigen Aufgaben gegenüber, um längst sicher geglaubte Errungenschaften der Zivilisation zu behalten. Ignorieren, Aufgabe oder Zweckzynismus sind keine Optionen. Man wird sich daran gewöhnen müssen, unermüdlich auf Ziele hinzuarbeiten, die unerreichbar scheinen.
tl;dr
Die Empörung über die Merkel-Überwachung muss in konkreten Konsequenzen münden. Sonst würde sie sinnlos bis geheuchelt gewesen sein.
