Peter Gabriels Web-Filter Gib mir weniger!
Eigentlich sei es Bill Joy gewesen, erzählt Peter Gabriel in einem bei YouTube veröffentlichten Video, der die Idee gehabt habe, Web-Nutzern weniger Auswahl zu servieren. Das klingt erst einmal gut: Joy ist eine Legende, war maßgeblich an der Entwicklung von Unix beteiligt, von Java und Solaris. Er schraubte am TCP/IP und gehörte so zu den Straßenbauern des Internets, um Mitte der Neunziger zu einem der prominentesten Visionäre der New Economy zu werden.
Einst, habe Joy bei einem Plausch mit Peter einmal gesagt, sei es darum gegangen, den Menschen im Internet ein möglichst großes Angebot zu bieten. Künftig werde es darum gehen, die Auswahl einzuschränken.
Damit war die Idee des Filters in der Welt, sagt Gabriel. Sein neuester Web-Dienst will Menschen helfen, weniger zu finden - oder besser: sich in der Flut des Web-Entertainments durch eine gezielte Vorfilterung besser zurechtzufinden. Ein Gedanke von genialer Einfachheit, den man allerdings auch anders übersetzen könnte: Im Grunde ist dies das Konzept jeder Aggregatoren-Webseite, die Videos nach Kategorien ordnet und auffindbar macht. Oder das jeder TV-Programmzeitschrift.
Aber Gabriel ist schließlich kein aufgeblasener Marketing-Blasen-Produzent. Der Musiker, einst Kopf und Sänger der Band Genesis, später erfolgreicher Solo-Sänger ("Solsbury Hill", "Sledgehammer") und Videokünstler, Weltmusik-Förderer und Chef eines eigenen Plattenlabels, ist seit langem schon auch einer der erfolgreichsten Web-Pioniere: 1999 - fast vier Jahre vor Apples iTunes Store - eröffnete Gabriel mit OD2 ("On demand Distribution") den ersten funktionierenden und legalen Musik-Downloadshop der Welt.
Die OD2-Technik liegt bis heute fast allen europäischen Download-Stores mit Ausnahme von iTunes und Napster zugrunde und gehört seit 2006 Nokia, die sie unter anderem an Microsoft lizenzieren.
Jetzt also folgt The Filter, eine Idee, die Gabriel seit geraumer Zeit verfolgt: Der in dieser Woche gelaunchte Web-Dienst setzt auf einer Software auf, die Gabriels Firma bereits seit Herbst 2006 für Shop- und Mobilplattformen (Symbian) anbot und die von Nokia eingesetzt wird. Ursprünglich war sie als Empfehlungs-Software gedacht, die musikalische Tipps in Programme wie iTunes oder den Windows Mediaplayer einfließen lassen sollte. Platt gesagt eine Art Last.fm für Shop-Plattformen.
Der neue Ansatz geht weiter: Jetzt soll The Filter seinen Nutzern gezielte und intelligente Angebote in Form einer vorgefilterten, auf ihn zugeschnittenen Auswahl aus verschiedenen medialen Quellen unterbreiten. Das ganz persönliche Programm aus dem Entertainment, das das Web aktuell bietet, sozusagen.
Eine tolle Idee, ohne Frage: Nicht jeder von uns ist Web-affin, nicht jeder weiß, wo die guten Aggregatorenseiten zu finden sind - und die meisten von uns wissen noch nicht einmal, ob und wann man Recht und Gesetz verletzt, wenn man solche Dienste nutzt. Grund genug, sich das alles einmal anzuschauen.
Registrierung
Empfangen wird man bei The Filter (verlangt Flash 8) mit einer kleinen Auswahl an Film- und Musiktiteln. Damit diese Offerten künftig auf den Nutzer zugeschnitten werden, muss der sich allerdings registrieren: Wie sonst sollte das System die Vorlieben kennenlernen?
Der Prozess umfasst fünf Schritte, bei denen zum einen Genre-Vorlieben abgefragt werden, zum anderen Beispieltitel bewertet werden sollen. Das kann man beliebig vertiefen und freiwillig mehr bewerten als eigentlich verlangt. Schon an diesem Punkt beginnt allerdings die Tücke des Systems: Weil ich bei den Film-Genres auch "Drama" angekreuzt habe, bekomme ich massenhaft Hollywood-Klassiker angeboten. Dass ich Humphrey-Bogart-Flicks wie "Casablanca" dann als gut einstufe, wird Folgen haben, genau wie mein grundsätzliches Wohlwollen gegenüber Ella Fitzgerald oder Miles Davis.
Das Problem dabei: The Filter bietet gern Extreme an. Freudig bewerte ich die etwas rauere Schiene von Green Day bis Eminem als positiv, klatsche kurz und bündig U2 als "bloß nicht" ab, finde Shakira tendenziell gut aber Anastacia unerträglich. Schnell zeigt sich: The Filter versteht mich nicht.
Denn nach dieser ersten Phase sieht meine ach so persönliche Startseite aus, als wäre ich 1942 irgendwo im Süden der USA geboren. Die Entwicklung von Film und Musik nach 1975 habe ich augenscheinlich verpasst, wenn man davon absieht, dass mich The Filter nun für einen Emo-Fan hält, der gar nicht genug bekommen kann von My Chemical Romance.
Der Testlauf: zu früh gelauncht?
Finetuning
Also weiter: bewerten, bewerten, bewerten. Man muss schon investieren in diesen Dienst. Nach gefühlten zwei Stunden hat The Filter es begriffen. Da sitzt einer, der auch Sachen gut finden mag, die er nicht nonstop hören muss. Nach erneutem Einloggen weitet sich die Bandbreite aus. Von Mainstream-Musik wie Snow Patrol, Verve oder The Killers über Klassiker wie die Smiths bis hin zu Krummtönern wie den Decemberists, den Shins und Iron & Wine reicht nun die Spanne - weniger angestaubt als zuvor. Das Gros ist immer noch uralter, langweiliger Käse, aber das könnte sich bessern, wenn ich fleißig weiterbewerte.
Beim Film klappt das hingegen gar nicht. Offenbar muss ich jeden Bond-Film einzeln als "bleib mir bloß weg damit!" bewerten, und dass ich - in nostalgischer Reminiszenz an die Kindertage meines Nachwuchses - einen Disney-Streifen ("The Grinch") als positiv bewertet habe, macht mich dauerhaft zum Bambi-Kandidaten. Und überhaupt - der erste Film, dem ich freiwillig einen Abend opfern würde, begrüßt mich beim Blättern erst auf Seite sieben.
Macht nichts, denn man verpasst natürlich nichts. So schön das Konzept in der Theorie auch ist, alle denkbaren Entertainment-Inhalte vorgefiltert zusammenzuführen, scheitert dies an den Realitäten des Marktes. Musik bekommt man bei The Filter in Massen zu hören, zu sehen bekommt man dagegen fast nichts außer YouTube-Häppchen und Film-Trailer. Die Filmecke beschränkt sich auf Werbeschnipsel und die Abbildung von DVD-Hüllen.
Aus Datenschutzsicht ein absoluter Alptaum
Die Sektion TV sieht noch rasierter aus. "We are working on it" steht da, zu Deutsch: Hier herrscht absolute Sendepause. Irgendwie hat man das Gefühl, The Filter könnte vielleicht etwas übereilt gelauncht worden sein.
Viel stärker kommt der Dienst allerdings daher, wenn man ihm mit Hilfe eines Programmapplets, das für Windows und Mac angeboten wird, Zugriff auf den eigenen Rechner sowie auf sein Last.fm-Profil erlaubt. Dann beginnt The Filter nämlich alles zu beobachten, was man medial auf dem Rechner treibt und nutzt. Regelmäßig wird das dann an den Web-Dienst übermittelt.
Begeisterte Nutzer von Social Networks haben sich ja daran gewöhnt, ihr Intimleben weltweit zu veröffentlichen. Für mich ist das nichts: Aus Sicht des Datenschutzes ist dann auch The Filter durch die Verknüpfung mit dem Nutzerprofil ein absoluter Alptraum.
Fazit?
Ja, die Idee ist gut. Ja, die Nutzerführung ist unkompliziert. Was Musik angeht, ist der Dienst durchaus komfortabel, sobald man ihm genug über sich beigebracht hat. Ähnlich wie bei Last.fm kann man sich darüber hinaus nicht nur Dinge vorschlagen lassen, sondern auch direkt nach Musik suchen. Eine Zweiteilung der Maske sorgt dafür, dass man Hören und zugleich schon den nächsten Titel auswählen kann - eine feine Sache.
Da endet die Multimedialität aber auch schon. Der Zugriff auf Video-Inhalte ist bisher auf Web-Videos begrenzt, und da nach (nicht wirklich spürbaren) Geschmackskriterien bedient zu werden, ist wenig sinnvoll: YouTube und Co. leben davon, Wundertüten zu sein. Dort sucht man gerade das Unerwartete, nicht das, was man kennt. Film und TV finden hingegen (zumindest im europäischen Filter-Dienst) nicht statt.
Noch steht allerdings auch das Wörtchen "Beta" im Filter-Logo - das Web-übliche Signal für "Das hier ist noch nicht fertig". Nach dem Launch zu Beginn der Woche verzögerte sich dieser Artikel, weil der Dienst über mehr als 24 Stunden kaum erreichbar war und wenn, dann offenbar mit eingeschränkten Funktionen - da wackelt noch so einiges.
Der wohlwollende Rezensent gönnt dem Filter da noch Zeit, zu voller Pracht zu erblühen. Der Pragmatiker aber kann seinem Leser bisher kaum zum Besuch raten: Was The Filter bisher bietet, bekommt man andernorts besser.
Dass das Angebot in dieser Woche weltweit so viel Presse bekommen hat, zeigt vor allem, wie viel man Peter Gabriel hier zutraut. Einen echten Vollflop hat der Mann noch nicht gelandet. In den nächsten Wochen wird sich zeigen, ob das auch für The Filter gilt. Das Konzept aber ist zukunftsfähig: "Gib mir weniger!" hat beste Chancen, zu einem Trend zu werden.