Polizeibrutalität Little Brother is watching you
Als am 3. März 1991 der Afroamerikaner Rodney King unter den Stockhieben einer Gruppe von Polizisten zu Boden ging, wurde das von einem Augenzeugen per Videokamera festgehalten. Er gab das Band an mehrere TV-Sender weiter. Die Veröffentlichung der Bänder schrieb Geschichte: Es begann zu brodeln im südlichen Los Angeles, bis sich rund ein Jahr darauf der wachsende Unmut über den vermeintlich rein rassistischen Übergriff in Unruhen entlud, die mindestens 53 Menschen das Leben kosteten.
Für die Eruption der Gewalt gab es zwei weitere Auslöser. Zum einen wurden die an der Prügelei beteiligten Polizisten in einem ersten Prozess freigesprochen. Zum anderen aber kam es kurz davor zu einem zweiten Mord, der ebenfalls rassistisch motiviert schien - und auch dieser wurde im Fernsehen gezeigt. Eine Videokamera hatte aufgezeichnet, wie eine aus Korea stammende Ladenbesitzerin eine Fünfzehnjährige von hinten mit einem Kopfschuss tötete, weil sie sie für eine Ladendiebin hielt. Bei den auf den Freispruch im Polizistenprozess folgenden Unruhen gingen darum zuerst die Ladenlokale asiatischer Bürger in Flammen auf.
Rund eine Woche brannte es in L.A.. Und weil der Gewaltexzess so offensichtlich durch TV-Berichterstattung induziert war, folgten Appelle an die Medien, verantwortungsvoller mit solchen Bildern umzugehen. Nicht nur der auch in vielen Redaktionen geführte Streit um die "Mohammed-Karikaturen" Jahre später zeigte, dass das nachwirkt: Anders, als das die Öffentlichkeit wahrnimmt, zeigt auch das Fernsehen längst nicht alle Bilder, über die es verfügt.
Heute braucht es das auch nicht mehr mehr: Es gibt ja YouTube.
Wer dort das Suchwort "Police brutality" eingibt, bekommt zurzeit rund 2250 Filme geliefert - fünfmal so viele wie vor einem Jahr. Da schlagen Cops auf Demonstranten ein oder fesseln einen wegen Skateboard-Fahren verhafteten 13-Jährigen. Sie beschießen eine vermummte Demonstrantin mit einer Elektroschockpistole, bis sie sich wie verlangt auf den Bauch legt oder zerren bei Verkehrskontrollen mit Gewalt schreiende Menschen aus Autos. Ein Tourist filmte im Frühjahr, wie Polizisten einen 16-Jährigen zusammenschlagen, und machte auch damit Schlagzeilen. Und immer wieder gibt es angebliche Übergriffe gegen Schwarze zu sehen.
Viele der Filme stammen aus lokalen Nachrichtensendungen, doch immer mehr davon werden mit Handy-Kameras oder mit handlichen Videocams gefilmt. Das ist sozialer Sprengstoff, wie aktuell das Beispiel der ruppigen Verhaftung des Studenten Andrew Meyer zeigt: Die Bilder seiner Verhaftung, bei der ihn Polizisten mit einer Elektroschockwaffe gefügig machen, machten ihn über Nacht zum YouTube-Star, zum "American Hero", wie einer der Filme überschrieben ist. Denn natürlich wurde der Vorfall gleich von mehreren Zeugen aus verschiedenen Blickwinkeln gefilmt. Die Kamera ist überall:
Dass Meyer seine Verhaftung möglicherweise provozierte, ist dabei irrelevant. Was zählt, ist die vermittelte Augenzeugenschaft - und die setzt in aller Regel ja erst dann ein, wenn etwas passiert ist: Niemand filmt nonstop. Die Kamera wird gezückt, wenn der Besitzer glaubt, etwas zu sehen, was er dokumentieren sollte. Das aber, beklagen gerade US-Polizeibeamte, verkürze einen Vorfall oft auf die finale Reaktion - der Auslöser werde nicht gezeigt. Das untergrabe das Image der Polizeibehörden und schüre den Hass gegen die Cops.
Zwischen Nutzen und Schaden - YouTube outet nicht nur Missetäter, es ist auch Propagandaplattform
Da mag hier und da einiges dran sein. Tatsache ist aber auch, dass es in den vergangenen Jahren zahlreiche gut und filmisch dokumentierte Fälle unprovozierter Polizeigewalt gab - und dass diese heute ein Massenpublikum finden, auch wenn das Fernsehen sie nicht zeigt. Die allgegenwärtige Kamera schafft eben auch allgegenwärtige Öffentlichkeit: Das meiste von dem, was man bei YouTube und Co. zu sehen bekommt, wäre Anfang der neunziger Jahre schlicht gar nicht gefilmt worden. Dass ein Anwohner anno 1991 eine Videokamera zur Hand hatte, als die Cops auf Rodney King einschlugen, war ein äußerst unwahrscheinlicher Zufall.
Im letzten Jahr sorgte die Misshandlung des muslimischen Studenten Mostafa Tabatabainedschad in einer Uni-Bibliothek in Los Angeles für eine interne Untersuchung bei der Los Angeles Police. Noch bevor die Medien darüber berichteten, kursierten diverse Mitschnitte des Vorfalls weltweit via YouTube:
Im selben Monat veröffentlichte die Gruppe Cop Watch LA ein Verhaftungsvideo bei YouTube, dass das Fass zum Überlaufen brachte. Um die Wogen der Empörung über die brutale Behandlung des angeblichen Gangmitglieds William Cardenas zu glätten, wurde der Polizei von Los Angeles eine FBI-Untersuchungskommission ins Haus geschickt. Für Bürgerrechtsgruppen wie Cop Watch LA sind Plattformen wie YouTube ein Geschenk des Himmels: Endlich kann man die Missetäter von allen redaktionellen Vorsichtsregeln unbehelligt outen.
Wie man sieht, mitunter mit positiven Auswirkungen. Solche Fälle sind jedoch die große Ausnahme. Nur wenige behauptete oder echte Übergriffe führen zu Konsequenzen, das meiste verpufft in der Masse der Videos. Das ändert aber nichts daran, dass es die öffentliche Wahrnehmung verändert. Die Allgegenwart von Kameras bedeutet, dass potentiell jederzeit und überall ein Korrespondent vor Ort ist. Kaum noch etwas geschieht ohne filmisches Zeugnis.
Missbrauch eingeschlossen
Dabei ist YouTube nicht gerade eine ernsthafte Bürgerrechtsplattform, noch nicht einmal ein Outlet für den so oft beschworenen Bürgerjournalismus: Da tragen Videos auch schon mal Titel wie "funny police brutality". Die Verhaftung einer Fastfood-Verkäuferin durch einen brüllenden Cop, der sich - fälschlich - um sein Wechselgeld betrogen fühlte, läuft unter "funny videos".
Aber es gibt noch andere Plattformen, die für frisches Material bei YouTube sorgen, es sehr gezielt platzieren - und dabei durchaus nicht um Objektivität bemüht sind.
So finden sich bei YouTube nicht nur platte Neonazi-Propagandafilme oder tendenziöse Randale-Videos zur Stimmungmache vor G-8-Gipfeln. Auch die Profis werden tätig: Zu den beliebtesten "Riot"-Videos bei YouTube gehörten lange filmische Zusammenschnitte, die dort über die Webangebote nordirischer Extremisten gezielt platziert wurden. Mit cooler Musik unterlegt führen sie vor, wie man eine zünftige Straßenschlacht inszeniert:
Dass sie dabei vornehmlich auf Videoaufnahmen aus den siebziger und achtziger Jahren zurückgreifen, verschweigen sie geflissentlich. Der Volkszorn ist eine nützliche Nebenwirkung, wenn man Sympathisanten rekrutieren will. Die Filme findet man auch in an Forenseiten der Continuity IRA (CIRA) - eine der letzten noch fleißig mordenden Untergrundgruppen - angebundene Datenbanken: Sie werden dort offen als Propagandamaterialien zur Verteilung an Web-Portale angeboten. Der CIRA-Film avancierte zu einem der meistgesehenen YouTube-Filme, als in den Pariser Vorstädten die Steine flogen. Propaganda zieht am besten im Kielwasser aktueller Ereignisse.
Das ist der Sündenfall, der das Ideal vom Bürgerjournalismus diskreditiert. Eine offene Plattform ist offen für Missbrauch jeder Couleur. Wer kann schon unterscheiden, wo die Zeugenschaft endet und die Manipulation beginnt? YouTube läuft der eigenen Verantwortung in einem chancenlosen Rennen hinterher. So sind viele Videos des Rodney-King-Videos gesperrt für Nutzer unter 16 Jahren. Ein Problem, dass die liebe Nutzerschaft souverän umschifft: Der Film läuft bei YouTube derzeit in rund 300 Versionen, die meisten sind frei zugänglich. Für jede gesperrte kommen ein paar frische Versionen hinzu.
Die Filme vom schreienden Andrew Meyer, der mit einer Elektroschockwaffe gequält wird, stehen nun für alle Zeiten eingereiht in die Serie der Zeugnisse sinnloser Polizeibrutalität in den USA. Während ihn die US-Medien längst als Provokateur thematisieren, wird er bei YouTube wohl für lange Zeit ein "amerikanischer Held" bleiben.