Radio Weltweit-Funk statt Regionalsender
Mehr als jeder vierte deutsche Internetnutzer hört mittlerweile Online-Radio, meldet der Branchenverband Bitkom am Mittwoch. Insgesamt nutzen demnach fast 16 Millionen Deutsche dieses Angebot, mehr als zehn Millionen Männer und rund 5,5 Millionen Frauen. Grundlage der Angaben ist eine repräsentative Umfrage von Techconsult unter tausend Personen über zehn Jahre.
Damit hat der Radio-Stream offenkundig die Nische verlassen. Kein Wunder: Er ist längst nicht mehr an den Rechner gebunden. Selbst bei Discountern sind inzwischen W-Lan-fähige Internetradios zu haben, seit neuestem auch in Form klassischer Stereo-Bausteine für die Anlage im Wohnzimmer. Das ist natürlich nicht zu schlagen: Wo auf dem guten alten UKW-Empfänger regional jeweils nur wenige Dudelfunker mit den immer gleichen Playlists konkurrieren, bietet das Web-Radio - je nach Sammeldienst - gut und gern 50.000 Stationen und mehr, die sich nach Genre und Geschmack gezielt auswählen lassen.
Wenn überhaupt klassisches Radio gemeint ist, wenn der Bitkom Radio sagt. Denn Online sind die Grenzen zu anderen Diensten fließend. Anbieter wie Last.fm machen es möglich, dass der Nutzer selbst seine Playlist zusammenstellt - der Hörer wird Programmdirektor und DJ. Klassischer Dudelfunk hat dagegen keine Chance. Zumal der Nutzer via Web etliche Zusatzdienste und Informationen geboten bekommt - von Titelinformationen bis hin zum kostenpflichtigen Download, wenn der gewünscht ist. Daneben funken im Netz zahllose auf alle möglichen Geschmäcker zugeschnittenen Formatradios, deren Programm und Playlist in den meisten deutschen Sendern allenfalls ein Kündigungsgrund wäre - ein Schlaraffenland für Musikliebhaber, denen das analoge Radioeinerlei auf den Wecker geht.
Boom: Vielfalt statt Dudelfunk
"Online-Radios werden dank schneller Internetzugänge, kostengünstiger Flatrates und der steigenden Verbreitung internetfähiger Handys immer beliebter. Zusätzlichen Schub bringen die neuen W-Lan-Radios, die Internetsender auch ohne Computer abspielen können", weiß auch Bitkom-Vizepräsident Achim Berg, im Hauptjob Chef von Microsoft Deutschland. Besonders beliebt sei Web-Radio bei jungen Männern. Mehr als jeder zweite männliche Internetnutzer zwischen 10 und 24 Jahren hört nach Erkenntnissen des Bitkom Online-Radio. Bei den Mädchen und Frauen dieser Gruppe seien es immerhin 30 Prozent.
Und es werden immer mehr, weil es eben freie Auswahl gibt: Wenn der öffentlich-rechtliche Jugendfunk in Köln zu langweilig wird, hört man eben mal rein, was in Kalkutta, in Lissabon oder New York gerade angesagt ist. Denn online konkurrieren auch ganz reguläre Sender plötzlich weltweit.
Für Berg, den Bitkom und die Nutzer ist das positiv, für die Sender nicht unbedingt. Wie erklärt man einem regionalen Werbekunden aus Cuxhaven, dass er neuerdings mehr Hörer in Chicago erreicht? Warum sollte ein in Deutschland ansässiges Unternehmen für Werbung bezahlen, die dann auf einem anderen Kontinent zu hören ist? 2006 waren von insgesamt 232 Radiostationen in Deutschland 153 reine Lokal- und Regionalsender. Was sie außerhalb ihrer Stammgebiete an Reichweite gewinnen, zahlt ihnen bisher niemand. Im Gegenteil.
Erschütterung des Geschäftsmodells
So etwas nennt man Streuverluste, und die werden in einer zunehmend zerrissenen Radiolandschaft zum Problem. Zumal es kein Unternehmen gibt, das seine Werbeetats für eine weltweite Kampagne ausschütten würde: Auch Weltmarken wie Coca Cola beackern über ihre Dependancen jeweils regionale Märkte.
Doch das, weiß Tim Renner, Chef von Motor.de in Berlin, ist nicht das einzige Problem für die klassischen Radiosender: Zwar sei es richtig, dass Radio in Deutschland vor allem ein regionaler Markt sei und die Vermarktung bisher natürlich darauf zugeschnitten. Doch problematisch sei es nicht allein, dass Web-aktive Sender nun plötzlich ein weltweites Publikum hätten. Das Geschäftsmodell des regionalen Radios werde auch deshalb erschüttert, weil mit den herkömmlichen Instrumentarien die neue Web-Hörerschaft gar nicht erfasst werde.
Renner: "Die Reichweiten von Radiosendern werden in Deutschland von der Arbeitsgemeinschaft Media Analyse erfasst. Das geschieht durch Umfragen per Festnetztelefon jeweils in der betreffenden Region. Die Zahlen, die dabei herauskommen, sind im Vergleich zu Logstatistiken Online butterweich. Trotzdem sind sie die Grundlage für die Werbebuchungen durch die Media-Agenturen, die zwischen Medien und werbenden Unternehmen vermitteln."
Im Klartext: Die potentiellen Kunden der Radios erfahren von einem guten Teil der Hörerschaft nichts, weil die außerhalb der untersuchten Region sitzt. Setzt man zudem voraus, dass die Bereitschaft, sich auf 30 Minuten Marktforschungs-Telefonbefragung einzulassen, bei verschiedenen Teilen der Radiozielgruppe unterschiedlich ausgeprägt ist, dann kann man wohl auch davon ausgehen, dass die Werber auch von einem guten Teil der Hörerschaft in der Region nichts erfahren.
Die Arbeitsgemeinschaft Media Analyse (ag.ma) sieht die Gefahr nicht, dass sogenannte neue Medien das gute alte Radio schädigen könnten. In ihrer letzten, am 14. Juli 2009 veröffentlichten Radiostudie wies sie erneut steigende Hörerzahlen aus - auch im jugendlichen Segment. Hans Georg Stolz, Vorstandsvorsitzender der ag.ma in einer Presseerklärung: "Die Eckdaten bestätigen in deutlicher Weise die Gattung Radio als Nutznießer und nicht als Opfer der zunehmenden Tendenzen der Medienkonvergenz."
Große Medienplattform begünstigt Große
Bisher geht es den privaten Stationen auch noch leidlich gut: Reich konnte man mit Radio noch nie werden. Immerhin aber konnten die Privatfunker in einem zunehmend umkämpften Werbemarkt ihre Umsätze von 2003 bis 2007 langsam, aber kontinuierlich auf zuletzt 692 Millionen Euro steigern. Was ab 2008 geschah, ist bisher nur anekdotisch bekannt: An manchen Sendern soll die Werbekrise weitgehend vorbeigegangen sein, andere röcheln hörbar. Sicher ist, dass der Werbekuchen nicht größer geworden ist - und die Umverteilung der Marktanteile eher zugunsten neuer Medien läuft. Online jedoch verstehen es bisher nur wenige Privatradios, wirklich zu glänzen.
Gegen die Engagements der öffentlich-rechtlichen Sender sehen die Privatradios so oder so blass aus. Die Sender des ARD-Netzes verfunken alles, was sie auch analog bieten, dazu Aufzeichnungen als Podcasts und zum Teil digitale Zusatzsender, die per UKW gar nicht zu haben sind. Ihnen kommt zudem entgegen, dass überregionale Bekanntheit der Verbreitung in einem grenzenlosen Medium durchaus zugute kommt.
Der Trend hin zum Internetradio dürfte aus all diesen Gründen die Radiolandschaft nachhaltig verändern. Nach Bitkom-Daten verfügten Ende 2008 rund 23 Millionen der fast 40 Millionen Haushalte (58 Prozent) in Deutschland über einen schnellen, breitbandigen Internetzugang. Für das Jahr 2009 erwartet der Bitkom ein Plus von 13 Prozent auf 26 Millionen Breitbandanschlüsse. Dann verfügen zwei von drei Haushalten über einen schnellen Zugang ins Internet. Die Bundesregierung hat sich zum Ziel gesetzt, Deutschland in den nächsten Jahren flächendeckend mit Breitband-Internet zu versorgen.
Auch das verbessert die Voraussetzungen für den Empfang von Musik über das Internet weiter. Seit die Flatrate als pauschale Zahlung für den Internetanschluss zur Regel geworden ist, gibt es auch keine finanziellen Gründe mehr, Medieninhalte nicht online abzurufen. Mit zunehmender Vernetzung der Haushalte auch in multimedialer Hinsicht schickt sich die Internettechnik an, das Dampfradio zu beerben. Der Vielfalt wird das guttun, aber Funk als Medium für regionale Informationen gerät damit zunehmend unter Druck.