Beständig fordert die Polizei bessere Überwachungsmöglichkeiten – vielleicht sollte sie damit bei den rechtsextremen Chats ihrer eigenen Leute anfangen. Hier geht es nicht um »Einzelfälle«, sondern Masseneinzelfälle.
Es gibt so etwas wie eine mediale Hornhaut, eine Stelle im Nachrichtenempfinden, die so stumpf ist, dass man kaum mehr etwas spürt. »Eine rechtsextreme Polizei-Chatgruppe wurde aufgedeckt«, das ist so ein medialer Hornhautsatz. Weshalb er inzwischen zu wenig öffentliche Beachtung findet.
Dabei wäre es außerordentlich wichtig, präzise nachzuverfolgen, wie sich Rechtsextremismus in Teilen der Sicherheitsbehörden verfestigt. Das liegt an der Macht dieser Kommunikationsform. Chats sind die Hygge-Hinterzimmer des Internets, meistens kommen sie mit einer kommunikativen Kuscheligkeit daher, die den Leuten die Zunge löst. Seit mit den sogenannten Messengern wie WhatsApp oder Telegram eine mobile, bunte, niedrigschwellige Variante im Angebot ist, hängt die Welt an der Chatnadel.
Die kursiven Schlagzeilen in diesem Text stammen sämtlich aus den 80 Tagen von Mitte September bis Ende November. Es handelt sich sogar um eine unvollständige Auflistung. Das hat zwei Gründe: Zum einen führt die Entlarvung eines Nazichats samt Beschlagnahme von Smartphones oft zu weiteren Nazichats. Zum anderen sträuben sich die Behörden – allen voran Horst Seehofer – sich diesem Problem wissenschaftlich und strukturell zu nähern. Es soll keine Studie über Rechtsextremismus bei der Polizei geben.
Im Chat, einem geschützten sozialdigitalen Raum, kann sich die wahre Haltung einer Person besonders leicht offenbaren. Chats können eine Intimität erzeugen wie kein anderes digitales Instrument.
Wer in die Seele eines Menschen schauen will, muss nur seine WhatsApp-Chats aufrufen – trotz aller Rollen und Posen, die viele Leute dort einnehmen, oder auch gerade deshalb. Denn so lässt sich spielerisch austesten, was noch sagbar ist. Im Zweifel war es eben ein schlechter Scherz oder eine unangemessene Übertreibung. Auf diese Weise kann man gemeinschaftlich erkunden, wie die Chatgruppe tatsächlich denkt und fühlt.
Kein Zufall, dass Extremisten aller Art Chats lieben. Nicht nur, dass sich solche geschützten Räume gut für die Terrorplanung eignen. Weil die großen Social-Media-Plattformen wie YouTube, Facebook, Twitter immer offensiver extremistische Accounts löschen, unternimmt etwa der »Islamische Staat« seit Jahren einen Rückzug in Chatsysteme wie RocketChat. Aufgrund der Struktur dieser vernetzten Software gibt es – anders als etwa bei WhatsApp – keinen zentralen Verantwortlichen. Mit etwas Fachkenntnis lässt sich damit anonym, verschlüsselt und kaum auffind- oder gar abschaltbar chatten.
Die indonesische Wissenschaftlerin Nava Nuraniyah hat die Bedeutung von Chatgruppen für islamistische Extremisten untersucht, ihr Fazit lautet: »Private Chatgruppen funktionieren hauptsächlich als Ort für soziale Interaktion und persönliche Bindung, sie helfen, die extremistischen Netzwerke auszuweiten, stärken den Gruppenzusammenhalt und verfestigen die Überzeugungen.«
Die soziale Dynamik von Chats kann man kaum überschätzen. Ein häufig gehörtes Argument in der Diskussion zur Onlineradikalisierung lautet: Soziale Medien machen nur sichtbar, was zuvor schon da war. Als Gegenargument wird dann ebenso oft erklärt: Soziale Medien verursachen die Radikalisierung.
Leider schließen sich die zwei Sätze gar nicht aus, beides stimmt gleichzeitig. Wenn ein digitales Instrument das Schlechteste aus dem einzelnen Menschen herausholen kann und dramatisch verstärkend wirkt – dann sind es Chats.
Dass der Chat zugleich eines der wunderbarsten sozialdigitalen Medien überhaupt ist, stimmt allerdings ebenso. Auf Datingplattformen wie Bumble oder Tinder lässt sich mithilfe eines kurzen, schriftlichen Austauschs oft recht gut abschätzen, wie das Gegenüber so drauf ist. Und es dürfte kaum eine netzbasierte Bewegung geben, von »Fridays for Future« über #blacklivesmatter bis zu den Hongkonger Aufstandsbürgern, die sich nicht per Chat koordiniert.
Wenn im Zeitalter der digitalen Vernetzung aus Worten Taten werden, geschieht das meist in Chats oder chatähnlichen Räumen wie etwa private Facebook-Gruppen. Soziale Medien sind von brillanten Menschen mit fast unbegrenzten Ressourcen so aufgebaut worden, dass sie maximal emotional aktivieren.
Eine solche Mobilisierungsfähigkeit ist gut für die Werbeindustrie, aber schlecht für die Radikalisierung. Denn diese Mechanismen spiegeln sich zum Teil in Chats, den kleinen, privaten Geschwistern der großen, öffentlichen Plattformen. Etwa in der Art, wie man mit geteilten Bildern und Videos umgeht.
Die dunkle Macht der Chats weckt Begehrlichkeiten. Soeben wollen die europäischen Sicherheitsbehörden wieder einmal die Verschlüsselung von Messengern schwächen. Die Diskussion darum ist weniger schwarz-weiß, als beide Seiten gern hätten – aber zur Wahrheit gehört auch, dass wir von rechtsextremen Polizeichats fast ausschließlich durch Leaks von Beteiligten und der darauffolgenden Gerätebeschlagnahme erfahren haben. Die »Schwachstelle« sozialer Medien ist meist sozial und nur selten im Medium.
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Ab und zu wird gefragt, ob es sich wirklich um ernst gemeint rechtsextreme Inhalte handele. Oder ob es nicht oft nur eine schwierige Form von Humor sei. Diese Frage verkennt, dass Humor ein essenzielles Mittel zur Verbreitung rechtsextremer Haltungen ist.
Der einflussreiche, amerikanische Neonazi Andrew Anglin (»Daily Stormer«) schrieb in seinem berüchtigten Handbuch für digitale Nazikommunikation: »Die Uneingeweihten sollten nie in der Lage sein zu erkennen, ob wir scherzen oder nicht.« Die Dynamik in Chats ist dafür ideal geeignet. Zusammen mit der Mobilisierbarkeit, der oft informellen Anmutung und dem sich verstärkenden Gruppenzusammenhalt ergibt sich ein Instrument, das für rechte Netzwerke in Sicherheitsbehörden wie geschaffen ist.
Mindestens 15 »Einzelfälle« – also eigentlich: Masseneinzelfälle – mit wahrscheinlich über 300 beteiligten Polizisten in kaum 80 Tagen. Keine Institution in Deutschland schreit lauter und beständiger nach tiefgreifenden Überwachungsmöglichkeiten als die verschiedenen Polizeien. Vielleicht fangen sie einfach mit den Chats ihrer eigenen Leute an, und dann sehen wir weiter.