Roger Schank Warum jetzt jeder ein Experte ist

Heftiger Streit über Fakten ist selten geworden. Im Netz lasse sich heute für fast alles ein Beleg finden, sagt der Psychologe Roger Schank. Doch die Informationen aus dem Internet seien oft nicht besser als die des Dorfältesten, der einst seine Rauchwolke um Rat fragte.
Psychologe Schank: "Das Internet hat die Schiedsrichter der Wahrheit geändert."

Psychologe Schank: "Das Internet hat die Schiedsrichter der Wahrheit geändert."

Das Internet hat mein Denken nicht verändert. Es hat auch nicht das Denken von irgendjemand anderem verändert. Das Denken ist immer gleichgeblieben. Um es etwas vereinfacht auszudrücken: Der Denkprozess beginnt mit einer Erwartung oder einer Vermutung; das Denken erfordert, dass man Belege findet (oder erfindet), die erklären, an welchem Punkt diese Erwartung in die Irre ging, und dass man sich für eine Erklärung des ursprünglich falschen Verständnisses entscheidet. Dieser Prozess hat sich seit der Zeit der Höhlenbewohner nicht verändert. Die wichtigen Fragen bei diesem Prozess sind folgende: Was gilt als Beleg? Wie findet man sie? Woher weiß man, dass das, was man gefunden hat, wahr ist? Wir konstruieren Erklärungen auf der Grundlage der Belege, die wir gefunden haben.

Was sich verändert hat, ist die Art und Weise, wie wir Belege finden, wie wir die gefundenen Belege interpretieren und wie wir Erklärungen finden, zwischen denen wir wählen können.

Ich wandte mich der KI (Künstlichen Intelligenz) mit genau diesem Ziel zu. Es ärgerte mich, dass Leute sich darüber stritten, was wahr sei. Sie verwickelten sich etwa in heftige Auseinandersetzungen über Babe Ruths Durchschnittsleistung beim Baseballschlagen. Das geschieht nun nicht mehr so oft. Jemand kann die Antwort rasch herausfinden. Dann hat der Streit ein Ende.

Heute treffen Menschen Entscheidungen, die auf Belegen beruhen

Auf den ersten Blick könnten wir meinen, dass das Internet die Art und Weise radikal verändert hat, wie wir nach Belegen suchen und sie akzeptieren. Ich bin mir sicher, dass das für die Intellektuellen gilt, die Essays als Antwort auf die Edge-Frage schreiben. Ich kann Belege schneller und Erklärungen, die andere angeboten haben, leichter finden. Ich kann über eine komplexe Frage mit Hilfe von mehr Informationen nachdenken und mit der Unterstützung von anderen, die über diese Frage schon nachgedacht haben. Natürlich konnte ich das auch immer schon in einem universitären Umfeld tun, aber jetzt kann ich es von zu Hause aus tun, und es geht schneller. Das ist zwar nett, aber weniger wichtig, als man glaubt.

Während der ganzen Menschheitsgeschichte wurden Belege, die das Denken unterstützten, dadurch gesammelt, dass man andere um Rat gefragt hat, typischerweise den Dorfältesten, der sein Wissen sehr wohl dadurch gewonnen haben mochte, dass er mit einer Rauchwolke sprach. Heute treffen Menschen Entscheidungen, die auf Belegen beruhen, die sie zwar aus dem Internet beziehen, aber diese Belege sind oft nicht besser als die Belege, mit denen der Dorfälteste aufgewartet hätte.

Die Intelligenzija mag wohl klüger werden, weil sie einen leichten Zugang zu einem größeren Bereich von korrektem Denken hat, aber der Rest der Welt könnte dümmer werden, weil er einen leichten Zugang zu Unsinn hat. Ich glaube nicht, dass das Internet mein Denken oder das irgendeiner anderen Person verändert hat. Es hat jedoch die Schiedsrichter der Wahrheit geändert. Jetzt ist jeder ein Experte.

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