Russland unter Verdacht Cyber-Angriffe auf Estland alarmieren EU und Nato
Seit drei Wochen stockt das estnische Netz. Websites der Regierung, von Parteien, Firmen, Banken, Handynetzbetreibern und Zeitungen sind Denial-of-Service-Attacken ausgesetzt - bei denen so viele Rechner zugleich auf einen Server zugreifen, dass dieser zusammenbricht. Erst gestern war laut "Baltic Times" der Zugang zum Onlinebanking der zweitgrößten Bank des Landes mehrere Stunden lang blockiert.
Die Nato hat Netzsicherheits-Spezialisten in die estnische Hauptstadt Tallin geschickt. In Brüssler Sicherheitskreisen waren die Cyber-Attacken ebenso Thema wie im Europaparlament. Doch anders als die Regierung Estlands scheuen sich europäische Offizielle im Vorfeld des Russland-EU-Gipfels in Samara, den Verdächtigen für die Angriffe bei Namen zu nennen - Russland.
"Es wurde ermittelt, dass Cyber-Terrorangriffe gegen Institutionen der estnischen Regierung und den Präsidenten Estlands von IP-Adressen von konkreten Personen und konkreten Computern russischer Regierungsorgane aus verübt worden sind", sagte der estnische Außenminister Urmas Paet - "inklusive der Verwaltung des russischen Präsidenten". Justizminister Rein Lang hatte schon Anfang Mai gesagt, Netzattacken auf offizielle estnische Websites seien von staatlichen russischen IP-Adressen aus gesteuert worden.
"Die Cyber-Attacken sind aus Russland. Das ist keine Frage, das ist politisch", sagte Merit Kopli von "Postimees", einer der beiden großen estnischen Tageszeitungen. Auch die Seite von "Postimees" war tagelang für ausländische Besucher nicht zu erreichen. Viele Webmaster in Estland hatten als erste Reaktion auf die Angriffe ihre Server für die Anfragen ausländischer Nutzer gesperrt.
"Klar, dass es sich um Cyber-Attacken handelt"
"Es ist klar, dass es sich in Estland um Cyber-Attacken handelt, die nicht akzeptabel und eine sehr ernsthafte Belästigung sind", sagte ein hochrangiger EU-Vertreter der britischen Zeitung "Guardian". Ein ebenfalls nicht namentlich genannter Angehöriger des Nato-Hauptquartiers in Brüssel sagte der Zeitung: "Das ist ein Sicherheitsproblem, das wir sehr ernst nehmen." Keiner der Offiziellen nannte aber die russische Regierung als möglichen Urheber.
Zwischen Estland und dem großen Nachbarn Russland war es zu schweren Auseinandersetzungen gekommen, nachdem die Esten Ende April ein russisches Kriegerdenkmal in Tallin abbauen wollten. In Moskau wurde die estnische Botschafterin von wütenden Demonstranten angegriffen.
Zwar sind mehrere Fälle von Hackerattacken auf staatliche Websites bekannt - unter anderem im Kosovokrieg, zwischen China und Taiwan oder im Nahen Osten. Allerdings handelte es sich dabei nicht um staatlich gesteuerte, sondern um private Aktionen. Würde nun eine Urheberschaft der russischen Regierung festgestellt, so wäre das der erste belegte Fall von Cyber-Attacken eines Staates auf einen anderen.
Russischer Botschafter weist Vorwürfe zurück
"Der Cyberspace ist überall", sagte der russischen Botschafter in Brüssel, Wladimir Tschischow, dem "Guardian". "Wenn sie implizieren, das sei von Russland oder der russischen Regierung ausgegangen, dann ist das eine ernsthafte Beschuldigung, die konkretisiert werden muss." Kreml-Sprecher Dimitri Peskov wies die Anschuldigungen gegenüber der Nachrichtenagentur Associated Press (AP) zurück. Die Angreifer müssten gefälschte Kreml-IP-Adressen benutzt haben, um die russischen Behörden in Misskredit zu bringen.
Estland mit seinen knapp anderthalb Millionen Einwohnern gilt als eine der vernetztesten Gesellschaften Europas und Pionier der elektronischen Verwaltung. Bei den letzten Parlamentswahlen konnten die Bürger ihre Stimme online abgeben - eine Weltpremiere. Das macht das Land auch besonders verletzlich.
"Wir hatten Glück, dass wir das überlebt haben", sagte Mikko Maddis, der Sprecher des estnischen Verteidigungsministers. Nach Angaben des "Guardian" ist einer der Planer der Angriffe identifiziert und ein 19-jähriger Helfer in Tallin verhaftet worden.
Das gespannte Verhältnis zwischen Russland und Estland soll beim Nato-Russland-Gipfel, der am heutigen Donnerstag in Samara beginnt, angesprochen werden. Der finnischen Tageszeitung "Helsingin Saanomat" sagte indes der Cyber-Sicherheitsexperte Mikko Hyppönen, es würde sehr schwer werden, die mögliche Verantwortung der russischen Regierung auch zu beweisen - und dass der Kreml deutlich größere Cyber-Schäden anrichten könne, wenn er nur wolle.
Ein namentlich nicht genannter Nato-Sprecher sagte AP, Computersysteme des Verteidigungsbündnisses in Estland seien nicht Ziel der Angriffe geworden. Man stehe im ständigen Kontakt mit den estnischen Behörden.
stx/AP