S.P.O.N. - Die Mensch-Maschine Das Internet ist eine Funzel

Es besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen Daten, Fakten und dem, was wir gemeinhin als Wissen bezeichnen. Das Internet als nahezu allgegenwärtiger Informationsvermittler erzeugt ein Gefühl perfekter Informiertheit. Doch das ist eine Illusion, glaubt Sascha Lobo.

In einem Sketch von Monty Python spielt Graham Chapman einen älteren Herrn, der seit vielen Jahren versucht, das hölzerne Modell eines Segelboots zu bauen. Und zwar im Dunkeln. Als seine Tochter das Licht anmacht, sehen alle Anwesenden das Modell zum ersten Mal. Es handelt sich - natürlich - um einen formlosen Haufen Holzmüll .

Das Internet bewirkt, dass das Licht immer öfter angeht, in mehr oder weniger allen Bereichen des Lebens. Mit dem Netz sind von Medien und Experten präsentierte Fakten einfacher überprüfbar geworden - mit geringerem Aufwand und für wesentlich mehr Leute. Ob eine Doktorarbeit kopierte Passagen enthält, lässt sich mit ein paar Klicks von jedermann nachvollziehen. Messdaten lassen sich live abrufen, die US-Regierung stellt zum Beispiel ihre weltweiten seismografischen Daten über Erdbeben in Echtzeit ins Netz . Ebenso taugt das unendliche digitale Archiv, um herauszufinden, wie lang der Zeitraum war zwischen Angela Merkels letzter kategorischer Ablehnung des Mindestlohns und der Einführung des Mindestlohns  (17 Monate).

Beständiges Zweifeln sinnvoll

An der Großartigkeit des Internets besteht daher kein Zweifel und alles könnte also so schön sein. Wenn bloß die widerspenstige Realität nicht wäre, der man sich sogar durch stundenlanges Googeln nur unter allergrößten Mühen nähern kann. Oder gar nicht. Denn auch wenn man den hohen Prozentsatz an Meinungsmehltau, ausgedachtem Unsinn und lobbyverschmierten Informationen ignorieren würde, bliebe im Netz wenig Eindeutiges übrig. Zu jedem Thema gibt es selbst unter ausgewiesenen Experten unterschiedliche Interpretationen der Daten- und Faktenlage. Und zu vielen auch gegensätzliche. Das war zwar schon immer so und ist kein Netzphänomen. Aber das Netz hat es für jeden Interessierten sichtbar gemacht. Das Internet hat jedem die Möglichkeit gegeben, an ungefähr allem zu zweifeln und dafür zumindest faktenähnliche Daten, Mitstreiter und Zeugen aller Art aufzubieten. Das artet zwar in vielen Fällen aus in Verschwörungstheorie. Aber grundsätzlich ist beständiges Zweifeln an herrschenden Lehrmeinungen etwas Sinnvolles. Skeptiker mögen oft unwirsche Zeitgenossen sein, mit denen man eher kein oder höchstens ein Bier trinken möchte, aber auf ihren Schultern ruhte und ruht ein großer Teil der Aufklärung und damit der Bildung von Wissen.

Wenn nur ganz klar wäre, wie aus Daten eigentlich Wissen entsteht. Kathrin Passig, Aleks Scholz und Kai Schreiber - die zu dritt immerhin zwei Doktortitel, einen Grimme-Award, einen Bachmannpreis und eine Sammlung von Fotos defekter Wäscheständer angehäuft haben - besprechen in ihrem unterhaltsamen "Lexikon des Unwissens 2 - die Rückkehr" das grundsätzliche Problem: "Die Mindestanforderung an Wissen, so liest man in praktisch jedem Einführungstext zu diesem Thema, besteht in einem "begründeten wahren Glauben"."  

Diese Definition wiederum geht auf Platon zurück und wird auch übersetzt als "wahre, gerechtfertigte Meinung". Ist sogar das gute, datengesättigte Wissen am Ende doch auch bloß eine Meinung? Ist es viel schwerer, zwischen Wissen und Glauben zu unterscheiden, als man es sich als rational orientierter Nichtesoteriker eingestehen möchte? Angesichts der vielen außerordentlich überzeugten Experten, deren Standpunkte sich über die Jahrhunderte als völlig unhaltbar erwiesen haben, fragen Passig und Co: "Warum sollten ausgerechnet wir die Generation sein, die alles richtig macht?"

Der Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman skizziert in seinem neuen Buch "Thinking, Fast and Slow",  wie sehr bei gleicher Datenlage die Formulierung einer Frage über die Antwort entscheidet. Sogar bei Experten, die eigentlich dagegen gefeit sein sollten. Bei einer Umfrage zu einer hypothetischen Epidemie stellte er einhundert Ärzte vor die Wahl, entweder ein Mittel anzuwenden, das von 600 Leuten 200 rettet. Oder eines, das mit einem Drittel Wahrscheinlichkeit alle 600 rettet, aber mit zwei Dritteln Wahrscheinlichkeit alle 600 tötet. 72% entschieden sich für das erste Mittel.

Die Frage bestimmt das Ergebnis

Dann drehte er die Frage um: Das erste Mittel würde 400 Leute sterben lassen. Das zweite würde mit einem Drittel Wahrscheinlichkeit niemanden sterben lassen, aber zu zwei Dritteln alle. Von den ausgebildeten Fachleuten entschieden sich in diesem datenidentischen, aber anders formulierten Szenario diesmal 78% für die zweite Variante. Interpretation und Präsentation von Daten sind offenbar wesentlich wichtiger als man sich eingestehen wollte, denn die Frage bestimmt das Ergebnis.

Die Fakten folgen der Form, und hier kommt das Netz mit großer Wucht ins Spiel zurück. Denn die digitale Vernetzung erlaubt es zwar, jedes Einzelfaktum mit dem Smartphone unterm Tisch in Sekunden zu überprüfen. Das reicht, um Experten im Internetzeitalter zur Verzweiflung zu treiben ("In der rätoromanischen Wikipedia steht aber das Gegenteil!"), macht aber den Unterschied zwischen Daten und Wissen deutlicher als je zuvor. Das Internet in seinem heutigen Aufbau kommt ausgesprochen datenreich daher - Fakten, Fakten, Fakten! - aber daraus entsteht nicht automatisch Wissen. Es ist ärgerlich einfach, in einem Meer von Daten und Fakten zu versinken, ohne einen Funken zu wissen. Und daraus folgt eine der wichtigsten Lektionen, die das Internet bereithält:

Daten sind dumm. Fakten sind flach.

Erst ein Kontext gibt ihnen einen Sinn, "Context is king", zitiert der Wired-Chefredakteur Chris Anderson in seinem Buch "The Long Tail" einen Internetunternehmer. Aber einen Kontext herzustellen, ist schon ein willkürlicher Akt: Die Art der Abfrage einer Datenbank entscheidet über das Ergebnis. Viel zu leicht lässt man sich von der Masse der Daten dazu verleiten, seine eigene Perspektive, seinen selbst durch die Abfrage konstruierten Kontext für das einzig wahre Wissen zu halten. Das Internet leuchtet heller als alles zuvor, aber es ist immer noch eine Funzel.

Nachdem das Licht angeht, ist Graham Chapmans erster Kommentar beim Anblick auf das völlig unbotmäßige Holzkonstrukt in seinen Händen: "Oh dear." Er fügt an, dass sein Modell zwar nicht ganz so akkurat sei, wie er gedacht habe. Aber es würden ja auch noch die Segel fehlen. Und den Rest werde er sich am nächsten Morgen genauer ansehen. Und zwar in der Dunkelkammer.

tl;dr

Es ist ärgerlich leicht, Daten mit Wissen zu verwechseln. Nicht nur im Netz, wegen der Fülle der Daten dort aber ganz besonders.

Offenlegung: Mit den Autoren des Lexikon des Unwissens bin ich freundschaftlich verbunden.

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