S.P.O.N. - Die Mensch-Maschine Gauck und die Stille Post im Netz
"Das Problem mit Zitaten im Internet ist, dass man nicht weiß, ob sie echt sind oder nicht", hat Abraham Lincoln gesagt. So jedenfalls steht es auf einem im Internet häufig geteilten Bild des 1865 ermordeten US-Präsidenten . Der Spruch deutet auf ein altes Problem im Netz hin: Die Verifikation von Zitaten ist keine einfache Aufgabe. Und sie wird noch einmal schwerer, wenn die Originalquellen nicht ohne weiteres digital verfügbar sind.
Die Zitatfunktion hat im Internet von Anfang an eine immens wichtige Rolle gespielt. Blogs sind Ende der neunziger Jahre als Netzlogbücher entstanden, die in der Regel verlinkte Zitate enthielten. Soziale Medien haben die Zitatfunktion tief in ihrer digitalen Maschinerie verankert: Facebooks Like-Button ist der halbautomatisierte Hinweis, eine Website oder einen Artikel interessant zu finden - und zitiert zu diesem Zweck prinzipiell die Überschrift. Auch die Sharing-Funktion des sozialen Netzwerks zitiert ebenso wie Google+ einen Teil des verlinkten Artikels. Ein junges Hamburger Start-up mit dem passenden Namen quote.fm hat das textliche Zitat sogar in den Mittelpunkt seiner Existenz gerückt.
Nirgendwo aber ist das Zitat so essentiell wie bei Twitter. Der Kurznachrichtendienst ist das mit Abstand schnellste soziale Netzwerk des Planeten, im vergangenen Jahr zeigte sich, dass sich Twitterbotschaften schneller ausbreiten als Erdbebenwellen . Nicht zufällig ist die zentrale Funktion von Twitter der Retweet, also die Wiederholung eines fremden Tweets, ein Zitat. Denn wo Geschwindigkeit Trumpf ist, ist das Zitat von höchstem Nutzen: Schneller als mit einer - zwei Klicks zum Retweet - rasch adoptierten Meinung kann man kaum teilnehmen am Argumentegewitter im Netz.
Twitterbotschaften finden immer häufiger Eingang in Artikel und Berichte
Passenderweise lässt sich in der deutschen Medienlandschaft beobachten, wie zitierte Twitterbotschaften von Politikern immer häufiger Eingang in Artikel und Berichte finden. Daran ist nichts Schlechtes, wenn auch politischer Schlagabtausch durch die twitterbedingte Kürze oft unfreiwillig komisch wirkt. Wer auf Twitter eine echte Diskussion über Politik führen möchte, hat vermutlich auch kein Problem damit, Kinofilme auf dem Handy zu sehen. Aber jeder, wie er möchte.
Die Zitatfixierung in den sozialen Medien nimmt mit der Beschleunigung zu. Und das ist ein Problem, genauer gesagt: ein Problem bei unsachgemäßem Gebrauch des Internets. Denn die vorderste Eigenschaft des Zitats ist die Herauslösung aus einem Kontext - und wenn man diese Verkürzung nicht ständig mitdenkt, gelangt man schnell zu falschen Schlüssen, absichtlich oder unabsichtlich. Das verkürzte Zitat wird in einen anreichernden Satz eingebaut, um ein paar Deutungen ergänzt und steht wenig später frisch angespitzt zur Wiederzitation bereit.
Das war natürlich schon vor dem Internet so, nur dauerte es bedeutend länger, die falschen Schlüsse zu publizieren und sie so wieder in den Zitatekreislauf der Öffentlichkeit einzuspeisen. Mit jeder Runde können Verkürzungen, Verdichtungen, Vereinfachungen dazukommen, bis aus der Andeutung der Spur einer Möglichkeit im Zitatzitatzitat ein ehernes Faktum geworden ist, das dazu noch mit einer gefühlten Blitzrecherche überprüfbar scheint - es ist ja überall zitiert, so spricht das allwissende Google und Lincoln lächelt. Die digitale Öffentlichkeit spielt ohrenbetäubend laut Stille Post.
Im Kontext bleibt wenig übrig von aggressiven Vorwürfen
Zuletzt ließ sich der ungünstigste Verlauf einer solchen Zitatkaskade im Fall von Joachim Gauck beobachten. Schon vor seiner Blocknominierung zum Bundespräsidentenkandidat suchten eifrige Zitatisten möglichst aufmerksamkeitsstark aufbereitbare Satzfetzen zur Weiterverbreitung. Mit zusammengekniffenen Augen ergab sich zu praktisch allen massenmobilisierenden Themen im Netz eine Kontraposition: Ablehnung des Protests um Stuttgart 21, Sarrazin-Sympathie, Occupy-Verachtung, pro Vorratsdatenspeicherung, das Netz tobte. Patrick Breitenbach hat auf dem Blog der Karlshochschule die als Belege wiederholten Zitate jeweils bis zu ihrem Ursprung zurückverfolgt : Im Kontext bleibt wenig übrig von den aggressiven Vorwürfen - unabhängig davon, wie man zu Gaucks Überzeugungen stehen mag. Eventuelle substantielle Kritik aber wird entwertet, wenn sie neben Quatsch-Kritik steht.
Ärgerlicherweise wurde der digitale Unterstellungstrubel durch den professionellen Journalismus befeuert: Die meisten Twitterer und Blogger bezogen sich auf anzitierte Halbsätze in Qualitätsmedien. Ein herausgelöstes Zitat so einzusetzen, wie es einem in den Kram passt, ist eine massenmediale Erfindung, die in den sozialen Medien nur schlecht nachgeahmt wird. In der "taz" erschien am Tag nach Gaucks Nominierung ein Artikel , der behauptete, Gauck missbillige es, "wenn das Geschehen des deutschen Judenmordes in eine Einzigartigkeit überhöht wird". So unerhört sich dieser Halbsatz anhören mag, auf so unredliche Weise ist er einem Redenmanuskript Gaucks bei der Robert-Bosch-Stiftung entrissen. In der Rede über die europäische Erinnerungskultur sagte Gauck tatsächlich:
"Nur am Rande sei die Gefahr der Trivialisierung des Holocaustgedenkens erwähnt. Unübersehbar gibt es eine Tendenz der Entweltlichung des Holocaust. Das geschieht dann, wenn das Geschehen des deutschen Judenmordes in eine Einzigartigkeit überhöht wird, die letztlich dem Verstehen und der Analyse entzogen ist."
Im weiteren Verlauf der Rede wird klar, dass Gauck mit dem Halbsatz eigentlich meinte, dass es gefährlich sei, so zu tun, als könne sich ein Holocaust sowieso nie wieder ereignen und man daher gar nicht besonders erinnern, analysieren, aufarbeiten müsse - das Gegenteil einer Verharmlosung.
Zusammenstauchen und Zurechtbiegen von Zitaten
Es fühlt sich an wie eine unheilige Allianz, wenn sich soziale Medien in ihrem Wunsch nach Verkürzung und Anspitzung und professionelle Medien in ihrem Wunsch nach vermarktbarer Aufmerksamkeit so ergänzen, dass Zitate in den maximalen Wirkungskontext zusammengestaucht und zurechtgebogen werden. In der Berichterstattung zum Arabischen Frühling ergänzten sich die Stärken von journalistischen Medien und Social Media - hier ergänzen sich die Schwächen.
Wenn die unreflektierte Reduktion auf Einzelzitate zur medialen Regel wird, dann wird jede ironische Bemerkung zur potentiellen Katastrophe und jedes Abwägen von Argumenten gefährlich. Es bliebe dem risikoaversen Politiker nur eine rundgelutschte, pressestellenhafte Hauptsatzrealität übrig - bloß kein falsch verstehbarer Nebensatz! - eine Entwicklung, die sich schon länger beobachten lässt und die nun durch die vereinten Mediakräfte von professional bis social beschleunigt werden kann.
Die deutschsprachige, digitale Öffentlichkeit - Netzgemeinde wie Online-Medien - muss sich in Teilen einen Vorwurf machen lassen, den sie mit Vorliebe Dritten vorhält: mangelnde Online-Kompetenz. In diesem Fall fehlende Kenntnis darüber, wie einer der wichtigsten Bausteine des Internet, das Zitat, richtig zu verwenden ist. Abraham Lincoln wäre sehr enttäuscht.
tl;dr
Das Zitat ist die Basis der sozialen Medien - aber es erfordert klassische Medienkompetenz, um es nicht verfälschend zu verwenden.