S.P.O.N. - Die Mensch-Maschine Meckert mehr!

Überall wird darüber gemeckert, dass zu viel gemeckert wird. Völlig zu Unrecht, findet Sascha Lobo. Mosern und Beschweren sind Tugenden, die dazu führen, dass die Welt zu einem besseren Ort wird. Dabei kann das Internet helfen: Schließlich gehört Meckern hier seit jeher zum Handwerk.

Meckern hat keinen guten Ruf. Im Gegenteil glauben ärgerlich viele Leute sogar, modern und espritversprühend zu wirken, wenn sie darüber meckern, dass alle nur meckern. Völlig zu Unrecht, denn Meckern ist Weltverbesserung. Wer die Zumutungen des Alltags klaglos hinnimmt, handelt verantwortungslos künftigen Generationen gegenüber. Das nicht immer ganz unberechtigte Gefühl, es werde zuviel gemeckert, liegt an den bemeckerten Themenfeldern: Über Personen und Handlungen wird viel gemeckert, über Dinge und Zustände weniger - zu wenig. Denn genau dort entfaltet sich am ehesten die goldene Wirkung der Beschwerde mit aufgerauhter Benutzeroberfläche, wie man das Meckern zeitgemäß definieren könnte.

Obwohl die nölende Beschwerde zu den frühesten Kommunikationsformen der Menschheit gehören dürfte, geäußert wahrscheinlich nur kurz nach dem ersten Beischlafangebot, hat das Meckern erst Ende des 20. Jahrhunderts mit dem Netz seinen eigenen Kulturraum erobert. Zweifellos ist das Internet gekommen, um sich zu beschweren. Insbesondere die sozialen Medien, Blogs und Social Networks, haben die heute umfangreiche digitale Beschwerdekultur mit aufgebaut. Der wahrscheinlich erste Blogeintrag überhaupt, von Dave Winer am 1. April 1997 verfasst, verlinkt gleich in der zweiten Zeile  die meckernde Beschwerde "Internetwerbung ist aufdringlich" sowie die zurückmeckernde Antwort.

Mit dem Einsatz eines Adblockers lässt sich zumindest dieses Problem empfindsamer Nutzer inzwischen lösen - allerdings auch das Problem der Refinanzierung von Inhalten im Netz weiter verschärfen. Jedenfalls kann man, auch ohne Feldstudien in digitaler Gruppenpsychologie, den Grund für die Entwicklung des Adblockers im ständigen Gemecker über "aufdringliche Internetwerbung" vermuten. Meckern - laut Tucholsky übrigens ein in Berlin erfundener Begriff - dient in einer Gruppe der verbalen Verortung des Handlungsbedarfs. Meckerintensität und -volumen zeigen die Dringlichkeit an. Anders als der erste Blogbeitrag ist die´erste Facebook-Statusmeldung zwar nicht überliefert, eine Beschwerde über die komplizierten Privacy-Einstellungen erscheint jedoch recht wahrscheinlich.

Die digitale Welt ist eine Ansammlung technischer Unzulänglichkeiten

Im Internet zeigt anhaltendes Gemecker einfacher als anderswo an, wo Verbesserungen notwendig sind, weil dort das Mecker-Objekt und der Mecker-Ort nur einen Klick voneinander entfernt sind. Wer sich hier nicht über schlechte Geräte, unbrauchbare Software oder verkorkste Kombinationen aus beidem beschwert, verlangsamt den Fortschritt. Außerdem handelt er passiv aggressiv, indem er untermeckerte Unternehmen zu aufwendiger Marktforschung zwingt. Marktforschung ist letztlich nichts anderes als eine teure Meckersimulation.

Dabei finden sich zahlreiche Möglichkeiten zur Weltverbesserung durch unterstützendes Meckern, denn die digitale Welt ist in ihrem heutigen Zustand eine Ansammlung technischer Unzulänglichkeiten. Als Beispiel sei willkürlich der derzeit erfolgreichste digitale Gegenstand herausgegriffen: Wieso kommuniziert ein durchschnittliches Smartphone schneller und einfacher mit einem Server in Honduras als mit einer dreißig Zentimeter entfernten Digitalkamera? Und selbst ein komplizierter Datenaustausch mit Kabeln und obskuren Steckadaptern ist noch eine Wohltat gegen das, was zwischen Web-Seiten und mobilen Browsern passiert .

Auf einem Handy einen ganz normalen Link zu einem ganz normalen Artikel anzuklicken, der problemfrei auf eine ganz normale Website führt, hört sich im Jahr 2011 eigentlich technisch realisierbar an - tatsächlich handelt es sich um einen Vorgang, der mit sonnenfinsternisähnlicher Häufigkeit auftritt. Heraus kommt entweder die kastrierte Mobilversion der Startseite, eine kryptische Fehlermeldung oder auf rätselhafte Weise Fehlproportioniertes. Obwohl das Internet letztlich nur aus Zahlen besteht, ist es im Detail vollkommen unberechenbar. Nicht mal eine einfarbige Website ohne jede Funktion sieht überall gleich aus. Und wie soll das Netz die Welt verbessern, wenn selbst eine Pizzabestellung aus mehreren tausend verschiedenen Gründen technisch schief gehen kann, ein guter Teil davon der internationalen Fehlerforschung noch unbekannt?

Dabei muss man noch froh sein, dass sich das mobile Internet nicht verhält wie die Welt der Steckdosen. Ein deutscher Stecker wirkt schon in der Schweiz so exotisch wie von Klingonen hergestellt und ist dort ähnlich gut benutzbar. In Italien wird er kaum noch als Stecker identifiziert und ein paar Kilometer weiter ist gleich das gesamte Stromnetz inkompatibel und die Geräte noch dazu. Der Weg zur Technik-Hölle ist mit vor Ort dann doch nicht passenden 12-fach-Adaptern gepflastert - womit der Kreis zum Smartphone wieder geschlossen wäre.

Eine bessere Welt muss herbeigemeckert werden

Es ist die Pflicht jedes vernünftigen Bürgers, sich über alle diese und andere störende Umstände laut zu beschweren, in meckerndem, keine Zweifel am Unmut lassenden Ton. Nur so wird den Verantwortlichen - zum Beispiel der Politik - die Chance zur Verbesserung zu geben. Existieren überhaupt Gesetze, die aus einem öffentlich geäußerten Wohlgefühl aller Beteiligten heraus entstanden sind? Oder ist nicht eigentlich das Gemecker die Urmutter allen gesetzlichen Regelungsbedarfs und damit des Rechtsstaats?

Die oft geschmähte, aber weltverbessernde Beschwerde bekommt erst in letzter Zeit die Unterstützung, die sie verdient. In ihrem mit einer Keith-Haring-Figur leider absurd hässlich becoverten, aber klugen Marketing-Fachbuch "Beschwerdemanagement - Unzufriedene Kunden als profitable Zielgruppe" stellen Bernd Stauss und Wolfgang Seidel das Meckern als großen Schatz dar. Die Beschwerde sei "nicht primär als abzuwehrendes Problem, sondern als Chance" zu begreifen und sogar der "Kern einer kundenorientierten Unternehmensstrategie". Wem diese Ehrenrettung des Meckerns zu kapitalistisch motiviert erscheint, der findet auch auf der anderen Seite der politischen Überzeugungsskala Leute, die kaum verhohlen das Meckern anpreisen. "Protest ist, wenn ich sage, das und das passt mir nicht", zitierte Ulrike Meinhof 1968 in der Zeitschrift "konkret" . Bekanntlich und fatalerweise aber verließ Meinhof anschließend das fruchtbare Feld des Meckerns.

Allzu oft wird im Kontext des Internets das Meckern, also der emotional vorgetragene Hinweis auf Verbesserungspotential, schlechtgeredet und nicht als nützliche Dienstleistung am Gemeinwohl anerkannt. Meckerdiffamierende Begriffe wie "Nölpest" werden verbreitet, es ist die Rede und vom Gemaule und Gejaule der ewig Unzufriedenen. Dabei gibt es in der Geschichte gewichtige Vorbilder für die protestierende Beschwerde. Die zweifellos größte Erfolgsgeschichte der Kulturtechnik Meckern ist fünfhundert Jahre alt und kann als Triebfeder der heutigen Arbeitsgesellschaft und damit des westlichen Lebensstils gelten: der Protestantismus, der sich praktischerweise schon im Namen offen zu seinen Mecker-Wurzeln bekennt. Und wenn eine veritable Weltreligion kein geeignetes Vorbild für das Internet ist, was dann?

Ein besseres Internet, eine bessere Welt muss herbeigemeckert werden, selbst wenn es mühsam ist für alle Beteiligten. Wer also im Internet endlosem, anstrengenden Gemecker begegnet, ist Zeuge des Wegs in eine schönere digitale Zukunft und sollte sich darüber nicht beschweren. Oder eben doch.

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