S.P.O.N. - Die Mensch-Maschine Pöbler an die Maus!
In öffentlichen Diskussionen um den theoretischen Hintergrund des Internets fehlt selten eine altkluge Nachtjacke, die Brechts Radiotheorie ins Spiel bringt und das Gedankenspiel, nachdem jeder Mensch Sender und Empfänger zugleich sein könnte und wie das die Gesellschaft verändern würde. Ähnlich wegweisend für die heraufziehende digitale Gesellschaft ist auch eine andere Kulturleistung Brechts: die Kunst der schriftlichen Beleidigung. Im "Lesebuch für Städtebewohner" beschimpfte er den Leser als Plattkopf, Gottfried Benn bezeichnete er als Schleim und zu Thomas Mann hatte er eine Art Hassliebe aufgebaut, nur ohne Liebe: die Deutschen müssten sich nicht nur für den Nationalsozialismus, sondern auch dafür rechtfertigen, dass sie die Romane von Thomas Mann geduldet hätten (was zum Zeitpunkt der Niederschrift in seinem Tagebuch 1943 allerdings noch einen anderen Klang hatte).
Mit dem Internet ist ein Kommunikationsraum entstanden, der mündliche Spontaneität mit schriftlicher Dauerhaftigkeit verbindet. Ins Internet übertragen wäre jedes zweite Gespräch in bundesdeutschen Firmenteeküchen rechtlich problematisch. Normale Unterhaltungen sind voll von Beleidigungen, ungerechten Unterstellungen bis hin zur Verleumdung, Schmähkritiken und übler Nachrede: ein bunter Blumenstrauß von Verletzungen verschiedenster Persönlichkeitsrechte. Ist es nicht bigott, dass eine alltägliche Unterhaltung strafbar wird, wenn sie im Netz stattfindet, weil in der digitalen Sphäre die Grenzen zwischen privater und öffentlicher Kommunikation nicht mehr trennscharf zu ziehen sind?
Beschimpfungen aushalten, Herabwürdigungen hinnehmen
In der digitalen Öffentlichkeit muss eine vernünftige Beleidigungskultur entwickelt werden. Schmähungen und Abfälligkeiten müssen straffrei möglich sein, der Gesetzgeber sollte im Netz einen entspannteren Umgang mit Beleidigungen aller Art fordern und fördern. Dabei geht es nicht um die vollständige Abschaffung des Straftatbestandes der Beleidigung, sondern um eine fortschrittsbedingte Anpassung.
Denn zu einer digitalen Beleidigungskultur gehört, Beschimpfungen auszuhalten, Herabwürdigungen hinzunehmen und Schmähungen zu ignorieren.
An dieser Stelle ist ein Lob der Politik dringend geboten: Allein Guido Westerwelle könnte einen Doppeljahrgang Jura-Absolventen in Vollzeit beschäftigen, wenn er sich um justiziable Äußerungen über ihn im Web kümmern würde. Er tut es schmuckerweise aber nicht, ebensowenig wie die meisten seiner weniger aber immer noch vielgeschmähten Kollegen. Die angesichts der Skandale, Fehlentscheidungen und Unzulänglichkeiten der letzten Jahre verloren geglaubte Vorbildfunktion deutscher Politiker - hier strahlt ihr Stern noch hell. Wie lächerlich machte sich Polens Präsident Lech Kaczynski, als er die juristische Verfolgung der "taz" forcierte, die ihn als Kartoffel bezeichnet hatte.
Mit dem Ruf "Schmähkritik!" Kritiker mundtot machen
Wenn Verballhornung, Verhöhnung, Verächtlichmachung wichtige und vielgenutzte Mittel der Kritik an politischen Persönlichkeiten sind - warum sollte das nicht auch für andere Leute gelten? Mit der Entstehung von sozialen Medien ist schließlich fast jeder Internetnutzer zu einer Art Person des öffentlichen Lebens geworden - auf den meisten Profilseiten der soziale Netzwerke finden sich mehr persönliche Informationen als in jeder Gala-Homestory. Wieso nimmt der Befindlichkeitsbürger für sich in Anspruch, Politiker straffrei als Idioten bezeichnen zu können, aber strengt eine Beleidigungsklage an, wenn man ihn so nennt?
Die Entkriminalisierung der Herabwürdigung im Netz ist vor allem wegen derjenigen Unternehmen notwendig, die mit dem Kampfruf "Schmähkritik!" versuchen, Kritiker mundtot zu machen. Es ist leichter, eine Bewertungsplattform im Netz zu programmieren als eine rechtlich unangreifbare Produktkritik darauf zu veröffentlichen.
Deshalb entfernen die meisten Plattformbetreiber vorauseilend alles aus dem Netz, wovon ein beliebiger Anwalt behauptet, es würde irgendeine Fußhupe irgendwie aus irgendeinem kindergartigen Grund stören. Aber eine Firma als Arschgeigen zu bezeichnen, kann in einer Zeit, in der Dieter Bohlen im Fernsehen Minderjährige demütigt, einfach keine Straftat sein.
Es darf kein Recht darauf geben, im Internet unbeschimpft zu bleiben. Zu fließend sind die Grenzen zur Beschneidung der Meinungsfreiheit, des höchsten digitalen Gutes, zusammen mit dem Recht auf Anonymität im Netz. Und die Zerstörung dieses Rechts ist oft genug das Ziel digitalreaktionärer Kräfte, die noch jede Abmahnung wegen eines angeblich ehrabschneidenden Kommafehlers für gerechtfertigt halten. Naiv dagegen zu glauben, dass die Strafbarkeit der Schmähkritik auch nur einen einzigen Internetvandalen von der Pöbelei abgehalten hätte. Der Beschimpfungsmarkt kann und muss liberalisiert werden, ohne gleich Mobbing und Hetze zu legalisieren. Das ist auch möglich: Es gibt einen feststellbaren Unterschied zwischen einer kränkenden Beleidigung und einer verbalen Vernichtungsjagd. Aber es ist ein Trugschluss, dass eine Gesellschaft besser ist, in der jemand nur deshalb nicht "Arschloch" ins Internet schreibt, weil es strafbar ist.
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