S.P.O.N. - Die Mensch-Maschine Überdosis Weltgeschehen
In Borges' Geschichte "Das Aleph" aus den vierziger Jahren findet der Held eine irisierende Kugel, die das gesamte Universum beinhaltet. Durch dieses Aleph kann man jeden Ort, jeden Gegenstand und jede Person der Welt sehen. Es ist schwer, den Text heute zu lesen, ohne an eine magische Version des Internet zu denken. Die Wirkung des Aleph auf den Erzähler sind "unendliches Staunen", "unendliches Mitleid" - und Ratlosigkeit.
Ich bin auch ratlos, und es liegt am Hilfsaleph Internet. Unironisch ratlos zu sein, ist nach offener Sympathie für Scientology ungefähr das zweituncoolste Gefühl, mit dem man heute seine Facebook-Friends belästigen kann. Meine Netzratlosigkeit hängt mit der Wahrnehmung der Welt zusammen, die das soziale Netz emotionalisiert und intensiviert, mustergültig zu betrachten bei den arabischen Revolutionen. Als ich in den achtziger Jahren begann, die Fernsehnachrichten zu verfolgen, kamen da irgendwann unerträgliche Bilder von Saddam Husseins Senfgasangriff auf ein kurdisches Dorf. Wie vermutlich alle anderen auch habe ich zu solchen Bildern rasch eine mediale Distanz entwickelt: Das war Fernsehen und damit fern. Aber die sozialen Medien bedeuten eine nie gekannte mediale Nähe. Zwölf Tote in der "Tagesschau" sind Nachrichten, ein privates Handy-Video, in dem sich ein arabischer Junge aus Verzweiflung verbrennt, ist Horror. Vielleicht ist es mit den sozialen, völlig distanzlosen Medien irgendwann ebenso wie mit den Nachrichten: Man gewöhnt sich dran und zieht konzentrische Kreise der Relevanz um sich.
Coolness und Voyeursfaszination
Noch aber wirkt die ungeheure Nähe des Mediums, und die Reaktionen sind zweigeteilt: Bei den einen mischt sich scheinbare Coolness mit einer Voyeursfaszination. Unendliches Staunen. Die anderen zeigen ihre pathostriefende Weltbetroffenheit. Unendliches Mitleid. Die Betroffenen verfallen dann in hektischen Aktionismus und errichten ein digitales Monument im Internet. Es mag sich zwar irgendwie richtig anfühlen, Solidarität mit der arabischen Jugend im Netz zeigen, indem man unterstützende Worte irgendwo hinschreibt. Aber es hat viel davon, jemandem in einem brennenden Haus freundlich zuzuwinken. Das Netz ist voll von Plattformen, auf denen man Empörung äußern oder sich zu irgendwas bekennen kann und anschließend digitale Forderungen in die Welt setzt. Sie wirken allesamt wie hilflose Akte der Selbstvergewisserung, man habe Mitgefühl und ethische Prinzipien: eine blasse, weitgehend wirkungslose Facebook-Menschlichkeit.
Ich weiß leider genauso wenig, wie man ethischer, besser oder überhaupt darauf reagieren soll, ich bin eben ratlos. Eventuell lag eine ganze Menge Gnade im vordigitalen Nichtwissen, als man noch tagelang in Archiven wühlen musste, um etwas über irgendeinen Missstand auf der Welt herauszufinden und auch dann meistens nur die retuschierte Reuters-Realität präsentiert bekam. Mir ist nicht klar, ob aus dem Wissen, das jeder in Sekunden im Netz sammeln und vertiefen kann, eine Verantwortung erwächst. Und wenn, wie man ihr gerecht werden kann.
Meine Ratlosigkeit stammt auch von einer fortlaufenden Überdosis Weltgeschehen. Transportiert durch traditionelle Medien - keine neue Erscheinung - kann man aber inzwischen mit dem Netz in fast beliebiger Informationstiefe selbst weiterrecherchieren. Und mit den sozialen Medien bleibt dieses Wissen nicht abstrakt, sondern bekommt eine persönliche Geschichte und ein Gesicht. Die digitale Augenzeugenschaft via YouTube hat eine andere emotionale Qualität als das Fernsehen, selbst wenn es sich um gleichen Bildern handelt: Ab und zu entsteht eine schwer zu ertragende Nähe zu allen möglichen Katastrophen, zu den fortwährend filmenden, fotografierenden, schreibenden beobachtenden Betroffenen.
Für mein Handy wird seit Jahren Krieg geführt
Die digitale Ratlosigkeit hat dazu noch eine Metaebene, die in der Hardware verborgen liegt: Die Metalle in der Elektronik meines Handys befeuern einen Krieg im Kongo, der seit 1998 sechs Millionen Menschen ihr Leben gekostet hat. Ich empfehle an dieser Stelle dringend, nicht selbst weiterzurecherchieren und schon gar nicht nach unzensierten Fotos dieses Krieges zu suchen, die sich dank sozialer Medien finden lassen. Es wird sonst deutlich komplizierter, sich seine Unbeschwertheit im Umgang mit den schönsten neuen Smartphones zu bewahren. Weder weinerliche Betroffenheit noch akzeptierende Coolness kommt mir hier wie eine richtige Reaktion vor. Ich habe auch nicht vor, deshalb keine Handys mehr zu benutzen. Vielleicht gibt es so etwas wie einen automatischen Zynismus des digitalen Zeitalters, fast alle Fakten zu allen Missständen herausfinden zu können und sie anschließend ignorieren zu müssen.
Bei Borges findet der Erzähler aus seinem Aleph-Dilemma heraus, indem er nach ein paar Tagen der Schlaflosigkeit einfach alles vergisst. Schließlich wird das Aleph zerstört, das wird mit dem Internet eher nicht passieren. Als schlechte, aber vorläufig beste Lösung erscheint mir trotz oder wegen der Nähe durch das Netz die weitestgehende Verdrängung, auch der Zusammenhänge zwischen meinem digitalen Lebensstil und Krisen aller Art. Und das Eingeständnis meiner Ratlosigkeit.
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Weiterführende, erklärende und behauptungsbelegende Links für alle Mensch-Maschine-Kolumnen finden sich unter http://delicious.com/saschalobo/spon , zum Beispiel auch eine englischsprachige Textversion von "Das Aleph".