Sascha Lobo

S.P.O.N. - Die Mensch-Maschine Entschuldigung, ich verstehe nur Verschiebebahnhof

Das Datenschutzabkommen Safe Harbor war ein Witz, den niemand verstanden hat. Dahinter zeigt sich, wie die europäische Politik versagt, sobald es um Digitales geht: Probleme werden nicht gelöst, nur verschoben.

Mit einem Knall, vermeintlich, hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschieden, dass Safe Harbor nicht gilt. Safe was? Safe Harbor war eine Art Internet-Abkommen der EU mit den USA, das geschlossen wurde, als Boris Becker noch Werbung für AOL gemacht hat. Sein faktischer Inhalt lässt sich darauf reduzieren, dass US-Unternehmen wie Facebook und Google sich nicht an deutsche Datenschutzregeln halten müssen, wenn sie ganz doll versprechen, die Daten pfleglich zu behandeln und dieses Versprechen von US-Kontrollstellen auch überprüfen zu lassen, die es so gar nicht gibt.

Die Bewertungen dieses Urteils kamen schnell, sogar schneller als die meisten Fachleute brauchen würden, die 35-seitige fachjuristische Urteilsbegründung zu analysieren : "Sensation" (Süddeutsche Zeitung), "starkes Signal" (Justizminister), "Welt verbessert" (Edward Snowden). Diese Einschätzungen mögen richtig sein. Aber sie feiern ein überraschendes Kopfballtor einer Mannschaft, die 16:1 zurückliegt. Schlimmer noch, das ganze Datenschutz-Turnier findet auf einem Abhang statt. Bei stürmischem Wind. Mit einem Ball aus Stroh. Und einem zweiten aus Granit.

Und das liegt nicht daran, dass der Gegner unter anderem die Geheimdienstmaschinerie mit der NSA an der Spitze ist. Das Urteil ist zwar die direkte Folge der Enthüllungen von Snowden. Und es dürfte die erste höchstrichterliche Feststellung der geheimdienstlichen Überwachungsradikalität auf EU-Ebene sein.

Aber. Die ganze verdammte Datenpolitik spreizt sich zwischen rechtsstaatlicher Farce und regulatorischer Hilflosigkeit auf. Und das hat sich mit dem Urteil nicht geändert, sondern wurde bestätigt. Ja, Safe Harbor war ein Witz, und es ist gut, dass es gekippt wurde. Dahinter kommt nun etwas viel Grauenvolleres zum Vorschein: die Dimension der Versäumnisse der europäischen Netzpolitik, sogar der Politik insgesamt.

Denn Safe Harbor war nichts anderes als eine uralte Begründung, um dringend benötigte Lösungen nicht erarbeiten zu müssen. Safe Harbor steht damit exemplarisch für drei Dimensionen des europäischen und deutschen Digitalversagens:

  • Die messbare Realität spielt praktisch keine Rolle.
    Digitalpolitik ist nicht evidenzbasiert, wird nicht an den Fakten und bestehenden Problemen entlang geführt, sondern an Lobby-Zielen und politisch vermarktbaren Kurzsichtigkeiten.

  • Regeln behindern eher kleine Unternehmen, als große zu bändigen.
    Egal, wie und weshalb am Ende Gesetze erlassen werden - die Resultate nutzen fast immer Großkonzernen und beeinträchtigen junge Firmen.

  • Politikmotto: Aus den Augen, aus dem Sinn.
    Selbst drängende Probleme werden oft nicht gelöst, sondern nur dorthin verschoben, wo man keine politische Verantwortung mehr trägt.

Die heutige Digitalpolitik ist ein Verschiebebahnhof, bei der wesentliche Kräfte nach bestenfalls erratischen, schlimmstenfalls gekauften Kriterien eine Politik betreiben, die das Gegenteil einer klugen Gesellschaftssteuerung ist: Die digitale Zukunft geschieht nicht durch die Digitalpolitik, sondern trotz der Digitalpolitik.

Und das Safe-Harbor-Urteil ist dafür ein Beweis. Denn die Dysfunktionalität dieses EU-Beschlusses ist lange bekannt, durch die Snowden-Enthüllungen erreichten sie bloß eine neue Ebene der Absurdität. Das Argument, "mit der Europäischen Datenschutzgrundverordnung wird das alles in Ordnung kommen", hätte zwar stimmen können. Aber zum einen hat gerade die Bundesregierung diese Gesetzeswerke über Jahre verzögert und verwässert. Und zum anderen ist Safe Harbor explizit wegen des radikalen Datenzugriffs der US-Dienste gekippt worden.

Aber nach dem, was man inzwischen weiß über die Tiefe und Technologien der Überwachung, ist es für NSA und Co. gar nicht notwendig, dass irgendwelche Daten legal in die USA übertragen werden müssen, um sie flächendeckend auszuspionieren.

Der innerhalb der EU ansässige, britische NSA-Partnerdienst GCHQ lacht sich über das Ende von Safe Harbor tot, bzw. leider nicht wirklich tot. Die deutschen Dienste wie BND und Verfassungsschutz vertreten Rechtsauffassungen und Weltanschauungen, in denen für ein Software-Abo der NSA noch jedes Datum des Planeten grundrechtswidrig weitergeleitet wird. Und nicht nur, dass die amtierende Bundesregierung dies stützt - sie behindert nach wie vor die Aufklärung darüber. Ob Safe Harbor existiert oder nicht, ist sämtlichen Nachrichtendiensten egal, superegal, hyperegal. Und das ist die eigentliche Katastrophe.

Ein kleines Detail übrigens wirft ein bezeichnendes Licht auf die europäische Digitalpolitik insgesamt. Es geht um die Antwort auf die Frage, was Safe Harbor eigentlich ist. Von den europäischen Behörden wird Safe Harbor als "Entscheidung der EU-Kommission" bezeichnet, was juristisch stimmt. Das US-Department of Commerce aber, mit der das vermeintliche Abkommen geschlossen wurde - betrachtet Safe Harbor als ein explizit von ihnen selbst entwickeltes "Framework" . Die exakt gleiche Konstruktion in der EU als EU-Direktive und in den USA als US-Regelwerk zu verstehen - ein aufschlussreicheres Symbol für die Dysfunktionalität der Datenpolitik lässt sich kaum finden.

tl;dr

Sowohl Safe Harbor als auch das Scheitern von Safe Harbor sind nur Symbole für die faktisch dysfunktionale Digitalpolitik.

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Foto: SPIEGEL ONLINE
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