Sascha Lobo

Kommunikation im Netz Der tägliche Meinungsfreiheitskampf

Die Debatte über Meinungsfreiheit geht in die falsche Richtung: Sie ist weder akut bedroht noch absolut sicher, sondern Gegenstand eines ständigen Aushandlungsprozesses - gerade in der digitalen Transformation.

Ein Gedankenexperiment: Hätten wir auch eine Debatte zur Meinungsfreiheit, wenn es nicht um rechte oder rechtsextreme Positionen ginge, sondern, sagen wir, ein Imam die Einführung der Scharia gefordert hätte? Würde man dann ständig hören, dass auch unbequeme Meinungen Schutz verdienen und in einer Demokratie ausgehalten werden müssen?

Schon der Anlass der aktuellen Debatte zeigt ihre Deformation. Und die besteht auch daraus, dass die sehr unterschiedlichen Aspekte der Meinungsfreiheit - etwa juristische Definition, Alltagspraxis und das Gefühl der Meinungsfreiheit - munter vermischt werden, um die eigenen Thesen möglichst plausibel erscheinen zu lassen. Dabei wird schon anhand des Imam-Beispiels klar, dass von den meisten DebatterInnen ein ganz spezielles Konzept der Meinungsfreiheit diskutiert wird: das eigene, recht subjektive.

Angela Merkel hat diese Übung im Gespräch mit dem SPIEGEL mustergültig vorgeturnt. Sie sagte: "Meinungsfreiheit schließt Widerspruchsfreiheit ein. Ich ermuntere jeden, seine oder ihre Meinung zu sagen, Nachfragen muss man dann aber auch aushalten. Und gegebenenfalls sogar einen sogenannten Shitstorm. Ich habe das ja auch schon erlebt. Das gehört zur Demokratie dazu."

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Blindheit für die Bedrohung von Menschen, die nicht Kanzlerin sind

Es ist einigermaßen bestürzend, dass Merkel hier offensichtlich aus dem eigenen Erleben heraus verallgemeinert - denn es ist sehr viel leichter, einen "sogenannten Shitstorm" von einer Hundertschaft Polizisten im Kanzleramt bewacht auszuhalten, mit der größten denkbaren Macht, mit unbeschränktem Zugriff auf juristische Ressourcen, ohne Existenzängste, ohne Angriffsfläche etwa gegenüber einem Unternehmen, bei dem man angestellt ist.

Es geht nicht darum, dass Merkels Äußerungen ganz falsch wären. Sondern um die implizite Blindheit für die Bedrohungen von Menschen in anderen Lebenslagen. Zudem sollten "sogenannte Shitstorms" nicht lapidar als hinzunehmende Begleiterscheinung der Demokratie bezeichnet werden. Denn sie können für Nichtkanzlerinnen sehr gefährlich sein - und eben auch die Meinungsfreiheit einschränken.

Es beginnt damit, dass zu selten vom finanziellen Aspekt der Meinungsfreiheit die Rede ist. Wer aus wirtschaftlichen Gründen weder klagen noch Klagen abwehren kann, überlegt sich oft sehr genau, was er öffentlich äußert. Die Schere im Kopf ist oft keine politische, sondern eine wirtschaftliche.

Beschimpfungen sind eine Gefahr für die Meinungsfreiheit

Die meisten Debattenbeiträge in großen Medien kommen von rechtlich abgesicherten Menschen, die genau diesen privilegierten Umstand selten beachten. Wenn immer wieder kolportiert wird, wie etwa rechte Hetzer erstaunt sind, wenn die Polizei vor der Tür steht, weil sie gar nicht an Konsequenzen ihrer Äußerungen gedacht haben - dann verzerrt das stark das Bild. Diese Leute sind die Ausnahme, sie werden ja gerade deshalb erwischt, weil ihnen jedes Gefühl für juristische Grenzen fehlt.

Obwohl Angela Merkel (zusammen mit Claudia Roth und Anetta Kahane) zu den meistbeschimpften Personen im deutschen Sprachraum gehört, fehlt ihr offenbar das Verständnis für die dahinterstehenden gesellschaftlichen Machtverhältnisse. Für Frauen, nicht weiße, jüdische oder muslimische Menschen, für geschlechtliche oder sexuelle Minderheiten, für Menschen mit Behinderungen, geringer Bildung und sozialem Status oder solche außerhalb einer visuellen Norm stellt ein Shitstorm eine andere Bedrohungslage dar als etwa für einen gutsituierten, mittelalten, weißen, konservativen Rechtsanwalt, dessen Leben weitgehend offline stattfindet. Das sagt allerdings noch nichts über die Gefühle, die ein solcher Sturm auslöst.

Wer noch nie in einem Shitstorm stand, hat nicht die geringste Ahnung, wie sich eine solche Attacke anfühlt. Wie radikal sie wirkt, wie existenziell sie rasch werden kann. Cybermobbing gehört heute zu den wichtigsten Faktoren bei Suiziden. Die Zahl der Menschen, die sich in sozialen Medien nicht oder nur eingeschränkt politisch äußern, weil sie einen Onlinemob, Hassattacken oder gar Offline-Übergriffe fürchten, ist nach meiner Einschätzung groß . Und natürlich sind aggressive Beschimpfungen oder Bedrohungen eine potenzielle Gefahr für die Meinungsfreiheit.

Was früher an Stammtischen verhallte, ist heute oft weltöffentlich

Ebenso wie der Missbrauch des Begriffs Meinungsfreiheit als Rechtfertigung für Hass und Hetze, vor allem durch Gruppen, die unter Meinungsfreiheit nichts anderes verstehen als die eigene Meinungsherrschaft und deshalb die bloße Existenz von Widerspruch bereits als Einschränkung begreifen. Darauf zielte Merkels Bemerkung vielleicht ab, aber dann muss sie präzise formulieren und nicht platt verallgemeinern.

Was wir gerade erleben, ist die digitale Transformation der Meinungsfreiheit. Jeder ihrer oben angeführten, unterschiedlichen Aspekte - der juristische, der praktische, der emotionale - verwandelt sich, mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten für verschiedene Teile der Bevölkerung. Das Gefühl vieler Leute, man dürfe heute nicht mehr unsanktioniert sagen, was man früher noch durfte, ist strukturell nicht völlig falsch: Es hat auch mit dem technologiegetriebenen Wandel von "sagen" zu tun. Was früher an Stammtischen verhallte, wird heute in sozialen Medien gespeichert und ist potenziell der ganzen Welt zugänglich.

Eine Vermischung von privaten Kommunikationsräumen und einer größeren Öffentlichkeit findet dadurch statt, und in beiden Sphären gelten unterschiedliche Regeln und Grenzen. Noch dazu lässt sich in sozialen Medien jede Äußerung entkontextualisieren. Aber die Maßstäbe für einen erhitzten Dialog im privaten Rahmen sind andere als die für ein öffentliches, isoliertes Statement. Aus der technosozialen Vermischung beider entstehen Unsicherheiten. Die Umfrageergebnisse sind ein Echo dieser Unsicherheiten.

Ein Wandel gesellschaftlicher Vereinbarungen

Die Liberalisierung der Gesellschaft bewirkt zusammen mit sozialen Medien, dass zuvor marginalisierte Gruppen nicht länger Verhaltensweisen hinnehmen, die sie als Teil ihrer Marginalisierung empfinden. Wer sein ganzes Leben lang nie Widerspruch für rassistische oder behindertenfeindliche Äußerungen bekam, fühlt sich natürlich zunächst eingeschränkt, wenn die gleichen Worte in sozialen Medien Empörung auslösen.

Das ist Teil eines Aushandlungsprozesses, wie sich Meinungsfreiheit durch die Transformation entwickelt, den vor allem Konservative und Rechte überall dort als "übertriebene Political Correctness" bezeichnen, wo er ihnen nicht passt.

Wer unter Meinungsfreiheit die eigene Freiheit zur unsanktionierten Beleidigung versteht, hat weniger ein Grundrechteproblem. Sondern ein Anstandsproblem. Die Regulierung von Meinung aber ist von jeher Teil der liberalen Demokratie, davon zeugen juristische Größen wie üble Nachrede, Volksverhetzung oder das Verbot der Holocaustleugnung. Bei der letzteren handelt es sich um eine zurecht verbotene Meinung, und dass sie darüber hinaus kontrafaktisch ist, soll kein Kriterium sein. Meinungsfreiheit darf als Fundament keinen Wahrheitsbegriff verwenden, sondern immer nur eine ethische Konvention. Die laufende Debatte  ist trotz aller Defekte deshalb zuerst ein Zeichen für den Wandel von gesellschaftlichen Vereinbarungen.

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Meinungsfreiheit ist ein kämpferischer Prozess

In einigen linken Zirkeln wird eine derzeitige Gefährdung der Meinungsfreiheit als falsches, rechtes Narrativ bezeichnet. Auch nicht linke, staatstragende MeinungsinhaberInnen wie die Kanzlerin sind explizit davon überzeugt, die Meinungsfreiheit sei nicht in Gefahr. Deutschland ist an internationalen und erst recht historischen Maßstäben gemessen ein sehr freies Land, jedenfalls für die Mehrheit der Bevölkerung.

Aber mir widerstrebt die Betrachtungsweise, irgendein Grundrecht für unbedroht zu halten. Wir leben in einem demokratischen Rechtsstaat, aber es ist zugleich ein Staat, in dem man als völlig unbescholtener Wissenschaftler samt Familie von Behörden überwacht und sogar verhaftet werden kann - nur weil man in seinen Publikationen ein Wort benutzt, das auch im Bekennerschreiben eines Anschlags verwendet wurde. Ja, wirklich, das ist so geschehen, und natürlich haben solche Szenarien Folgen für Gefühl und Praxis der Meinungsfreiheit.

Bei seinem Abschied vom Präsidentenamt sagte Barack Obama, die größte Gefahr für die Demokratie sei, sie für selbstverständlich zu halten. Analog dazu möchte ich die Meinungsfreiheit für prinzipiell bedroht halten. In einer liberalen Demokratie ist Meinungsfreiheit kein Ziel, das man erreicht und dann ist gut, sondern ein ständiger, durchaus kämpferischer Prozess. Grundrechte sind wie Sauerstoff, wenn man an einem Ort mit besonders sauberer Luft angekommen ist, hört man auch nicht einfach auf zu atmen.

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