
S.P.O.N. - Die Mensch-Maschine Merkels Schweigen in der NSA-Affäre macht aggressiv

Nein. Das Jahr 2013 hat nicht bloß offenbart, dass das Internet totalüberwacht wird. In diesem Jahr hat sich das Internet als Weltüberwachungsmaschine entpuppt, mit dem man nebenher Flüge buchen, ehemalige Klassenkameraden wegen ihrer unattraktiven Kinder verspotten und gebrauchte Kochtöpfe ersteigern kann.
Der Aktivist Jacob Appelbaum hielt auf dem Hackerkongress 30C3 des Chaos Computer Clubs einen Vortrag, dessen furchtbare Essenz sich prägnant zusammenfassen lässt: Die NSA will jeden überwachen, kann jeden überwachen und schert sich nicht um jedwede Regeln. Nicht, dass das nicht schon vor Appelbaums Vortrag deutlich geworden wäre. Zuvor vom SPIEGEL veröffentlichte Dokumente zeigen, wie das Netz samt aller Menschen darin überwacht und kontrolliert wird.
Diese Veröffentlichung mag auf Desinteressierte wirken wie der 70. Aufguss des immer gleichen Enthüllungstees der Sorte Earl Snowden. Es handelt sich jedoch um eine 1-A-Zeitenwende, auch wenn das erst retrospektiv wirklich klar werden wird - nämlich wenn sich in den Köpfen die Bedrohung der ständigen, realen Überwachung verfestigt haben wird.
Es wird noch weiter gehen
Der Inhalt der Papiere übersteigt praktisch jede abseitige Verschwörungstheorie, die für verwirrt gehaltene Nerds in den letzten Jahren in dunklen Chats und anonymen Kellern geäußert haben mögen. Wanzen in USB-Steckern, Postpakete, die geöffnet werden, um Spähgut einzubauen, spionierende Monitorkabel, völlig neue Arten von Überwachungsgerät, die auch offline funktionieren und per Radar aktiviert und ausgelesen werden können und in der Lage sind, Stimmen aufzuzeichnen, der Einbau von sogenannten Backdoors in die Hardware praktisch aller großen US-Tech-Unternehmen von Dell bis IBM, ein eigenes, sekundäres NSA-Internet neben dem bekannten Internet, das nur für die weltweite Bürgerüberwachung existiert. Und so weiter. Denn es wird noch weiter gehen.
"Zeit Online" hat es in einer Überschrift aufpunktiert: Das Internet gehört der NSA . Und dabei ist der beschriebene Stand mehrheitlich von 2008, die Ingenieure der NSA werden in den letzten sechs Jahren nicht aufgehört haben, an der derzeitigen inoffiziellen Vision der Vereinigten Staaten zu arbeiten: die Abschaffung der Privatsphäre für jede Person auf dem Planeten. Langsam lässt sich eine gewisse Unruhe in der Bevölkerung ausmachen, sogar bei denjenigen, deren Sommermantra lautete: "Ich habe doch nichts zu verbergen." Sollte es am Ende doch nicht nur der Terrorismusabwehr dienen, alle, alle, alle, immer, immer, immer zu überwachen?
Kein Wort davon bei Merkel
Leider findet die spät, aber doch aufkommende Skepsis des Souveräns, der Wählerschaft, so gar kein Echo bei der Person, die genau dafür verantwortlich wäre. Der vorab an Medien verschickte Text der Neujahrsansprache von Kanzlerin Merkel behandelt eine Reihe von Themen, die 2013 und 2014 relevant waren und sind: die Flut im Frühsommer, 100 Jahre und 75 Jahre Weltkriegsanfänge, eine angebliche "Staatsschuldenkrise", die Europawahlen im Frühjahr und auch, dass irgendjemand mit dem Rauchen aufhören will.
Der Spähskandal, die größte digitale Gesellschaftskrise des 21. Jahrhunderts, kommt in der verbreiteten Version mit keinem Wort vor. Schlimmer noch: Im Text steht wirklich, ernsthaft - nach einem solchen Jahr! - der Satz: "Das ist auch der Grund für die vielen guten Nachrichten in diesem Jahr." Es handelt sich zwar nicht um die Mitschrift der Rede, sondern um den vorbereiteten Text für die Presse, aber Merkel ist bekannt dafür, so spontan zu sein wie ein Schweizer Busfahrplan.
Merkels Schweigen macht aggressiv, weil es ein aggressiver Akt ist. Diese Impertinenz, diese regelrechte Verachtung der Öffentlichkeit: Merkel vergleicht gegenüber Obama am Telefon die NSA-Aktivitäten stocksauer mit der Stasi und erklärt der Bevölkerung, wie irre gut das Jahr gelaufen sei. Angela Merkel spielt der Öffentlichkeit vor, alles sei in Ordnung, während sie selbst ganz offensichtlich längst anderer Überzeugung ist. Stasi-Vergleiche gegenüber einem US-Präsidenten, das ist auf der Merkel-Skala der Entrüstung von eins bis zehn eine gute Zwanzig. Um es einzusortieren: Gerhard Schröder wäre zu seiner Amtszeit bei Bekanntwerden eines solchen Vergleichs von der CDU mit Wutschaum und Rücktrittsforderungen bespritzt worden.
Was müsste eigentlich enthüllt werden, was müsste überhaupt passieren, damit die Kanzlerin anfinge, auch nur viertelwegs offen zu reden mit den Leuten, denen sie ihre Macht verdankt? Eine rhetorische Frage, es ist ja schon alles passiert.
Ein diplomatisches "Fuck off"
Ein bedrückendes Gedankenspiel: Was würde eigentlich geschehen, wenn Obama in die Vorwärtsverteidung schaltete? Wenn er fortan sagte: "Ja, alle werden überwacht, und zwar immer und überall, weil die NSA das so will. Und weil der NSA eure Regeln so viel wert sind wie benutztes Einweggeschirr. Stößchen Neujahr!" Mit Worten hat Obama das zwar noch nicht ganz so explizit gesagt, aber wenn die Bundesregierung im Juli einen Fragenkatalog an die NSA schickt, im Spätherbst nochmal nachfragt und im Januar ist noch immer keine Antwort da - das kommt schon recht nah an ein diplomatisches "Fuck off" heran.
Europa schlittert in eine digitale Gesellschaft, die kontrolliert wird von der NSA. Dem lässt sich etwas entgegensetzen. Und es beginnt damit, die spürbar zunehmende Verstörung der Wähler zu formulieren, dass demokratische, befreundete Staaten sich feindlich und gänzlich undemokratisch verhalten. 2014 muss das Jahr des Neinsagens werden.
tl;dr
Das Internet gehört der NSA, und dagegen anzukämpfen beginnt damit, nein zu sagen.