S.P.O.N. - Die Mensch-Maschine Den Schwarm interessiert nur das Ergebnis

Wie schlau kann das gemeinsame Wirken vieler sein? Der inflationäre Gebrauch des Begriffs der "Schwarmintelligenz" vermittelt ein falsches Bild: Wenn viele zusammen an einer Sache arbeiten, dann ist das gut, Intelligenz ist dabei nicht zwangsläufig im Spiel.

Wenn Phänomene aus dem weiteren Umfeld des Internets auftauchen, fehlt selten ein Kommentar, der mit der großen Wucht geringer Sachkenntnis von Schwarmintelligenz raunt. Je nachdem, ob das betreffende Phänomen gerade Erstaunliches (Piraten, Plagiatejäger) bewirkt hat oder Erbärmliches (Piraten, Plagiatejäger), bekommt der Begriff Schwarmintelligenz einen ehrfurchtsvollen oder herablassenden Beiklang.

Das ist kein Zufall. Der digital vernetzte Schwarm ist die größte Projektionsfläche der Netzzeit. Schwarm geht immer. Ob positiv oder negativ besetzt, im Zweifel als Symbol für sämtliche, digitale Aktivitäten ab drei Teilnehmern, spätestens seit Howard Rheingolds Buch "Smart Mobs" von 2002. Die populäre Berichterstattung kennt für Internetpersonal nur drei Zahlenangaben: eins, zwei, Schwarm. In den meisten Fällen ist der Verweis auf den Schwarm ohne weitere Erklärung bloß ein Zeichen intellektueller Sparsamkeit, ein Begründungsimitat wie Bauschaum, mit dem man rappzapp die Hohlräume im eigenen, schlecht konstruierten Gedankengebäude auffüllen kann.

Allerdings muss man zugeben, dass die Weisheit der Vielen, oft synonym für Schwarmintelligenz gebraucht, keine einfach zu greifende Angelegenheit ist. Führt etwa der erste Klick in die Kommentarspalten von YouTube oder eines durchschnittlichen, redaktionellen Mediums, muss man feststellen: Die Vielen sind zweifellos anwesend, die Weisheit verbirgt sich ausgesprochen geschickt.

Ende der sechziger Jahre beherrschten Proteste die Universität von Oregon. Die Studenten kämpften für die damals handelsüblichen politischen Ziele - aber auch für Mitbestimmung bei der Umgestaltung der Universität. Nach anfänglichem Zögern engagierte die akademische Administration den Wiener Architekten Christopher Alexander. Dieser war überzeugt, dass die Studenten selbst besser als jeder Spezialist wüssten, wie der Campus umgebaut werden müsse. Seinen Plan für betreutes Gruppengestalten veröffentlichte er später in Buchform unter dem Titel "The Oregon Experiment" . Dieses Experiment beinhaltete eines der einleuchtendsten Beispiele  für das, was Schwarmintelligenz sein kann und was nicht.

Um die Wegeführung zu verbessern, wurde das Gelände zwischen den Gebäuden der Universität planiert. Dann wurde Rasen ausgesät. Wo das Gras nach ein paar Monaten heruntergetrampelt war, teerte man neue Wege. Dieses Verfahren, als Desire Lines bezeichnet, brachte das effizienteste Wegenetz hervor, kein einzelner Landschaftsgestalter hätte die Wege exakt so anlegen können. Darin liegt der Schlüssel zum Verständnis der Schwarmintelligenz: Der zweite Teil des Worts ist im Deutschen (wie auch "Weisheit") schlicht irreführend.

Das ergebnisorientierte Zusammenspiel einer Gruppe

Denn Schwarmintelligenz ist keine Intelligenz im gewöhnlichen Sinn, sondern beschreibt das ergebnisorientierte Zusammenspiel einer Gruppe. Das kann neue und ungesehene Qualitäten entwickeln. Aber es muss nicht - und es braucht eine geeignete Koordination von Einzelleistung und Gruppenverhalten. Das ist das große Missverständnis hinter der unerträglichen Leichtfertigkeit des Schwarms und der streumunitionierten Verwendung des Begriffs. Ein folgenreicher Kategorienfehler, man sucht eine personenähnliche Intelligenz im übermenschengroßen, geniehaften Sinn. Und übersieht, dass Gruppen seit vielen tausend Jahren Instrumente und Strukturen benutzen, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Wer Schwarmintelligenz sagt, meint in den meisten Fällen schlicht Internet-Kollaboration. Nur dass sich "Intelligenz" irgendwie positiv anhört, so dass das erwartete Ergebnis gefälligst klug, neu, superfamos zu sein hat.

Netzwerke, Web-Applikationen und Server-Landschaften, die derzeit unter dem Schlagwort Cloud vermarktet werden, können die Zusammenarbeit stark verändern und auch verbessern: Gleichzeitige Arbeit, beschleunigte Interaktionen, soziale Strukturen und Daten werden sichtbar und nachvollziehbar. Aber es bleibt das gemeinsame Projekt einer Gruppe. Und eine Langzeitstudie zur Kollaboration unter dem Namen "Menschheit" hat jüngst zu dem Ergebnis geführt, dass bei Gemeinschaftsprojekten auch totaler Quark herauskommen kann.

In diese Falle, in einer nur diffus definierten Schwarmintelligenz einen ab Werk eingebauten Mehrwert zu sehen, kann man von beiden Seiten tappen. Netzenthusiasten glauben, mit der richtigen Software käme zwingend ein besseres Ergebnis heraus und sehen in Liquid Feedback die automatisierte Rettung der Demokratie. Internet-Skeptiker bewerten die ersten Ergebnisse einer schwarmintelligenzbasierten Anwendung, sind irritiert, dass es sich um Evakuierungspläne für eine Zombieinvasion handelt und halten anschließend diese komische Schwarmintelligenz insgesamt für Unfug.

Die vielfältigen historischen Beispiele für Schwarmprojekte, digital wie nichtdigital, lassen einen simplen Schluss zu. Es braucht Taktgeber (Christoph Alexander), die geeignete Technologie (Rasen) und die richtige Verfahrensweise (Desire Lines), um aus dem Schwarm die durchaus großartige Qualität herauszuwringen, die den unglücklichen Namen Schwarmintelligenz trägt. Und selbst dann kann das Ergebnis nur so gut sein, wie die Aufgabenstellung es zulässt. Wer eine schwarmintelligenzbasierte Lösung für die Rückgabe von Pfandflaschen sucht, bekommt zur großen Überraschung vieler politischer Beobachter keine Weiterentwicklung der Relativitätstheorie.

Seit 1880 existiert ein positives Beispiel für das geschmeidige Zusammenspiel zwischen Einzelleistung und Schwarmverhalten. Das Ergebnis ist ein Werk, das im deutschen Sprachraum bis heute als maßgebend in Zweifelsfällen betrachtet wird. Am Duden, benannt nach Konrad Duden, lässt sich nicht nur ablesen, wie stark die Öffentlichkeit dazu neigt, geniale Leistungen dauerhaft einer Einzelperson zuzuschreiben. Es lässt sich auch eine vielsagende Definition von Schwarmintelligenz  nachschlagen: "Fähigkeit eines Kollektivs zu sinnvoll erscheinendem Verhalten". Sinnvoll erscheinend. Weiser lässt sich das nicht formulieren.

tl;dr

Missverständnis: Schwarmintelligenz ist keine personenhafte Intelligenz, die eigentliche Schwarmqualität ist vernetzte Kollaboration.

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