
Schluss mit der Jugendschelte Lasst doch mal die Millennials in Ruhe, ey!


Junge Männer auf einer Brücke
Foto: Hauke-Christian Dittrich/ dpa68er, das war noch ein Name, der klang nach Revolte, Weltveränderung, sehr aktiv also. Oder Generation X, immerhin popkulturell geprägt, ein wenig geheimnisvoll. Die neue, hyperdigitale Generation aber muss mit Bezeichnungen wie Millennials, Generation Y oder schlimmstenfalls sogar "Digital Natives" zurechtkommen. Schon im Namen schwingt der Vorwurf der Passivität mit, das Millennium stand seit 2000 Jahren fest, Y folgt ohne erkennbare Leistung einfach alphabetisch auf X und "Digital Native" trägt die Hilfsgnade der sehr späten Geburt in sich.
Den impliziten Vorhaltungen folgen die expliziten. Generationenschimpfe ist zum soundsovielten Mal en vogue. Und noch immer und für immer ist Jugendschelte nichts als Selbstanpreisung, ihr seid Backfische, wir waren Hechte! Quer durch die Medienlandschaft geskippt: Millennials seien unpolitisch oder ganz falsch politisch , sie hätten trotz Tinder weniger Sex als irgendeine Generation seit Beginn der Messungen, sie interessierten sich für die falschen, dummen oder absurden Dinge. Narzisstisch seien sie ohnehin , das zeige schon die dreiste Dreifaltigkeit der Egoneurose aus Selfie, Sexting und Snapchat.
Hinter dieser Abwertung der Jungen anhand ihrer (meist digitalen) Verhaltensweisen steckt ein Muster - es ist das gleiche wie seit Anbeginn der Zeit, diese schlimme Mischung aus Selbstüberhöhung, Neid und dem Weltschmerz der Alternden. Die Millennialverachtung kommt in vielen unterschiedlichen Geschmacksrichtungen daher, die aber alle eines gemein haben: ihre Erbärmlichkeit.
Millennialverachtung ist der Ausweis der eigenen Unfähigkeit und Unwilligkeit, die sich rasch wandelnde Welt und die damit irgendwie Zurechtkommenden zu verstehen. Denn die meisten Vorwürfe, die dieser jungen Generation gemacht werden, entstehen aus Unwissenheit. Lebens- und Überlebensweisen der Millennials erscheinen oft als überraschend clevere und bewusste Reaktionen auf den Weltenwandel. Die Zurückfallenden sind bloß selten willens, das zu entschlüsseln.
"Pokémon Go" als privates, situatives Mittel gegen Terrorhorror
"Pokémon Go" zum Beispiel fungiert als brandneue Wasserscheide des Kulturpessimismus. Überraschend viele Leute, die die großen, digitalen Entwicklungen der letzten Generation - Smartphones, Facebook, Twitter - feiern und alle Nichtdigitalen belächeln oder beschimpfen, tun öffentlich ihre Verachtung dieses Spiels kund. "Pokémon Go" macht Fortschrittsgläubige über Nacht zu vergangenheitsfixierten Technologieskeptikern, die die digitale Welt in den Grenzen von 2011 erhalten wollen.
An den goldenen Fortschritt von gestern zu glauben, viel trauriger kann man seinen Abschied von der Gegenwart kaum beweisen: Damals, als die Zukunft noch toll war! Das Millennial-Spiel "Pokémon Go" erfüllt in sensationeller Weise ein Bedürfnis dieser Generation: einen globalen, gemeinsamen Jackentaschen-Eskapismus.
Zusammen der verstörenden Realität zu entfliehen, und zwar in eine spielerische Sphäre, die sich als sozial-digitale Schicht über die ganze Welt gelegt hat. Nur so lässt sich das nervige Bismarck-Denkmal umwidmen zu dem Ort, wo man sein erstes Aquana gefangen hat: "Pokémon Go" als privates, situatives Mittel gegen Terrorhorror, warum nicht, so viel schlechter als die Vorratsdatenspeicherung wird es auch nicht funktionieren.
Leicht nachzuvollziehen, aus der gegenwärtigen Welt fliehen zu wollen, wenigstens für einen Moment verschont zu bleiben von im Kern unverständlichen Krisen, Konflikten, Kriegen. Die die Millennials von genau denjenigen Leuten erben, die rund um die Uhr von Weltverbesserung sprachen. Oder von digitaler Weltverbesserung wie die Generation X, zu der ich mich zählen muss. Mein persönlicher (glücklicherweise nie öffentlich geäußerter) Vorwurf an Millennials entsprang der Irritation, dass Millennials scheinbar so wenig protestieren gegen die ständig intensivierte Überwachung. Trotz ihrer unbestreitbaren Netzaffinität.
Da war wenig Aufbegehren gegen das, was Edward Snowden (auch ein Millennial, wie Mark Zuckerberg) enthüllt hat, noch weniger gegen die Folgen oder besser: die Nichtfolgen. Ende Juli hat Angela Merkel mit einem knappen Satz das Ende aller Aufarbeitungen des Überwachungsdramas verfügt: "Die Grundrechte unserer Bürger sind umfassend gewahrt." Der Kontext war das aktuelle BND-Gesetz, das schlicht erlaubt, was bisher verboten war.
Eine Problemlösung, als würde man per Gesetz Hungernde zu Fastenden erklären und Fasten ist doch gesund. Protest war außer auf einschlägigen Seiten kaum hörbar, Millennial-Protest nicht existent. Diese einfältigen jungen Leute, fügen sich ohne Widerworte in eine durchüberwachte Welt! Könnte man denken, aber inzwischen halte ich das für die falsche Perspektive.
"Pick your battles", such dir genau aus, wofür du kämpfst und wofür nicht. Auf den ersten Blick mag dieser Sinnspruch wirken wie eine Aufforderung, Zumutungen zu erdulden. Auf den zweiten Blick auch, denn genau genommen handelt es sich genau darum: die Aufforderung, die Zumutungen der Welt zu erdulden, aber eben nicht alle. Seine Kraft zu konzentrieren auf das Wesentliche. Kein dummer Spruch jedenfalls, oft ein sinnvoller Ratschlag. Aber angesichts einer (westlichen) Welt, in der die Verlässlichkeiten und Gewissheiten des 20. Jahrhunderts nach und nach verblassen, vergehen, vernichtet werden, könnte der Sinnspruch der Millennials lauten: "battles pick you".
Millennials lehren uns eine wertvolle Lektion
Die, die Start-ups gegründet haben für die Integration von Flüchtlingen, die gegen den Brexit und für Europa gestimmt haben, die es sogar schaffen, einen gemeinsamen Aufruf "gegen Erdowahn" von Jungliberalen bis zur Linkspartei-Jugend zu organisieren - das sind Millennials. Drei eindrückliche Zeichen für die Andersartigkeit des Engagements dieser digitalen Generation. Vor allem aber auch ein Hinweis auf eine Welt, in der man sich nicht ein interessantes Problem aussucht, gegen das man ankämpft - sondern in der die Probleme so groß werden und so nahekommen, dass keine Wahlmöglichkeit bleibt.
Auf meine eigene Verwunderung über den weitgehend ausbleibenden, jungen Protest gegen Überwachung lässt sich auch eine andere Antwort geben als der schale Vorwurf politischer Apathie. Wenn Millennials weniger verdienen als die Generation zuvor, wenn ihnen unbefristete Arbeitsverträge in quasi-homoöpathischer Dosis begegnen, wenn sie durch ein ikonisches Foto von Aylan Kurdi im Mittelmeer statt eines touristischen Ziels ein Massengrab sehen - dann sind das Probleme des Jetzt.
Zentraler Bestandteil der meisten Proteste gegen die eskalierenden Überwachungsapparate aber ist die Warnung vor Missbrauchspotenzial, und damit aus Sicht der meisten (westeuropäischen) Leute ein Problem von Morgen. Es mag mir vielleicht nicht gefallen, weil es meiner Vorstellung vom Wert der Rechtsstaatlichkeit entgegensteht, aber die Antwort der Millennials auf die Überwachung war offenbar die Entscheidung, diesen Kampf nicht aufzunehmen. Zumindest nicht jetzt, und vor allem nicht so, wie ich es in einer Art Generationenegozentrik gern gesehen hätte.
Andere Kämpfe scheinen ihnen genau in diesem Moment wichtiger, und das ist zu akzeptieren. Für die dauerschimpfenden Jugendskeptiker ebenso wie für mich. Aber die Jugend trägt Kämpfe aus, und keine kleinen. Finanzkrisen, Flüchtlingskrisen, EU-Zerfall, politische und religiöse Detonationen und nicht zuletzt die große Ratlosigkeit, mit der das 21. Jahrhundert am 11. September 2001 in monströser Weise begann.
Millennials (wenn ich das Wort noch einmal schreibe, muss ich würgen) lehren uns eine wertvolle Lektion. Sie besteht wahrscheinlich daraus, sich nicht dagegen zu wehren, ein Kind seiner Zeit zu sein. Und sich trotzdem für die eigenen Werte zu engagieren, aber eben nach eigenen Regeln. Es ist so leicht, kommenden Generationen mangelndes Interesse für die Probleme vorzuwerfen, die man für sich selbst als wichtig identifiziert hat. Oder ihnen vorzuwerfen, dass sie sich der Probleme nicht auf die richtige, vorgeschriebene Art annehmen. Aber es gibt nichts, was egozentrischer, neiderfüllter, reaktionärer wäre.
tl;dr
Lasst doch mal die Millennials in Ruhe, ey, die haben genug Scherereien mit der Welt, die wir ihnen vorgesetzt haben.