S.P.O.N. - Die Mensch-Maschine Ein digitalpolitisches Armutszeugnis
Zurücktreten! Und zwar ein paar Schritte, um vor der Bundestagswahl aus der Halbdistanz ein Resümee der Digitalpolitik der vor sich hin amtierenden Regierung zu ziehen. Die Jahre zwischen 2009 und 2013 waren in fast jeder Hinsicht entscheidend für die Entwicklung zur digitalen Gesellschaft.
Mit Facebook und Twitter erfuhren soziale Medienplattformen ihren endgültigen Durchbruch. Der Tablet-Markt entstand und machte mit dem Smartphone das mobile Internet zur Selbstverständlichkeit. Streaming fand seinen Platz im digitalen Medienangebot. Cloud Computing begann, Unternehmensprozesse substantiell zu verändern. Big Data, die Mustererkennung in großen Datenmengen, wurde zum wirtschaftlichen wie politischen Schlagwort. Am Horizont lassen beraterhaft benannte Trends wie Augmented Reality, Smart Home oder selbstfahrende Autos die nächste Stufe erkennen: Das Netz geht nicht mehr weg, wenn man den Laptop zuklappt. Und es vereinnahmt immer mehr Branchen.
Vor diesem umfassenden gesellschaftlichen Wandel stellt sich als größte digitalpolitische Leistung der Legislaturperiode heraus: die Rücknahme des Netzsperrengesetzes von 2009. Symbolträchtiger geht es kaum. Das Internet verändert die Welt, und das Beste, was die Regierung Merkel in diesem Bereich hinkriegt, ist nichts. Abgesehen von der wirklich ausgezeichneten neuen Homepage angela-merkel.de .
Die Liste der deutschen Digitaldebakel dagegen ist so lang, dass sie nur auszugsweise wiedergegeben werden kann, wenn man nicht gerade über NSA-dimensionale Yottabyte-Speicher verfügt. Zu den schmerzhaftesten, publikumswirksamsten und folgenreichsten Verfehlungen gehören:
- die dramatisch vernachlässigte Infrastruktur. Während andere Länder zweistellige Milliardenförderungen in Glasfasernetze pumpen, ignoriert die Bundesregierung, dass die Unternehmen allein niemals die ungeheuren Investitionen stemmen könnten - und wenn, dann nur mit schädlichen Hilfsmitteln wie der Aufgabe der Netzneutralität oder fatalen Drosselungsdummheiten. Das Resultat: Die Auflistung der 22 europäischen Volkswirtschaften mit den meisten Glasfaseranschlüssen beinhaltet Deutschland gar nicht erst. Weil die Darstellungsgrenze bei einem Prozent liegt. Das klitzekleine Russland kommt auf 14 Prozent Haushalte mit Glasfaser, das superreiche Bulgarien auf 17 Prozent, und in Litauen verfügen mehr als doppelt so viele Haushalte über Glasfaser wie in Deutschland. Und zwar in absoluten Zahlen.
- die versäumte gesetzliche Verankerung der Netzneutralität. Dieses hausgemachte Problem kann ausschließlich politisch gelöst werden und gefährdet das Internet selbst. Die Gleichbehandlung aller Daten in technisch sinnvollem Rahmen ist die Basis für die Entstehung des heutigen Internets und die Voraussetzung für digitale Innovationen. Die Folge der Inaktivität: Die lobbyverschmierte EU-Führung behauptet, die Netzneutralität wahren zu wollen, schlägt aber faktisch ihre Abschaffung vor.
- die Streichung des Universaldienstes. Die Bundesregierung hat ihren ursprünglichen Plan, Unternehmen wie die Telekom zur Datengrundversorgung aller Bürger zu verpflichten, fallen lassen wie einen heißen Ersatzakku. Als Ergebnis können Millionen Menschen in Deutschland in ihrem Netzzugang auch 2013 noch jedes eintrudelnde Bit einzeln per Handschlag begrüßen.
- die Einführung des weltweit sinnlosesten Internetgesetzes, nämlich des Leistungsschutzrechts. Getrieben von Axel Springer und Burda hat die Bundesregierung ein Gesetz geschaffen, das nicht nur keinen Zweck erfüllt, sondern das auch noch schlecht umsetzt. Wie zum Ausgleich sind netzfeindliche Kollateralschäden zu erwarten. Zugleich entspricht das Gesetz einem Neonschild, das Start-ups weltweit anzeigt, wo sie weder politisches Netzverständnis noch ein Gespür für die Bedürfnisse der Internetwirtschaft erwarten dürfen.
Und da ist noch so viel mehr. Das unwürdige Gehampel um Vorratsdatenspeicherung und Bestandsdatenauskunft, die Acta-Verirrung, das Akzeptieren des Staatstrojaners, der fehlende Druck, die Roaming-Unverschämtheit zu beenden, das De-bakel namens De-Mail, die Nichtanpassung des Urheberrechts an Netzrealitäten, die Tatenlosigkeit gegen den Abmahnwahn, der politisch fabrizierte, unwürdige Zwischenzustand der öffentlich-rechtlichen Medien im Bereich Internet samt bizarrer Depublikationspflicht, das fragwürdige Vorgehen zum Thema Open Government, die ausgebliebenen Impulse zu einer digitalen Bildungspolitik, das weitestgehende Ignorieren der Gema-Groteske - und so weiter.
All das wird schließlich abgerundet durch das realitätsferne Narrenspiel zur NSA-Spähaffäre. Auf der Zielgeraden vor der Wahl hat die Bundesregierung damit nicht nur gezeigt, dass sie im Zweifel auf eisenharte Desinformation, gezielte Unwahrheit und dreiste Verschleierung setzt. Sondern auch, dass die hohe Zahl der Versäumnisse, Falschvorhaben und Fehlschläge kein Zufall ist. Sie ist ein Produkt der konsequenten Missachtung der digitalen Welt und der Leute, die sich darin bewegen. Deshalb hat die Pendlerpauschale eine höhere Priorität als ein Glasfasernetz, deshalb ist Friede Springers Wohlgefühl für Angela Merkel wichtiger als die komplette Digitalwirtschaft, deshalb sind Grundrechte im Netz der Bundesregierung schlicht weniger wert.
Im Jahr 2013 twittern mindestens 311 Bundestagsabgeordnete, also mehr als die Hälfte. Was die Politik betrifft, ist die digitale Gesellschaft per Smartphone in den Händen angekommen. In den Köpfen noch lange nicht.
tl;dr Das digitalpolitische Œuvre der Regierung Merkel schließt nahtlos an das Versagen der Großen Koalition zuvor an.