S.P.O.N. - Die Mensch-Maschine Der Browser frisst die alte digitale Welt
Der 9. Dezember 1968 ab 15.45 Uhr kann als Geburtszeitpunkt der heutigen digitalen Welt gelten. An diesem Tag führte der Informationsvisionär Doug Engelbart auf einer Konferenz eine berühmt gewordene Präsentation vor, die als "mother of all demos" bezeichnet wird. Angekündigt war die Vorführung eines "computerbasierten, interaktiven Bildschirmsystems mit mehreren Geräten".
Auch der Zweck dieser Technologien fand sich auf dem Veranstaltungsflyer, Engelbart hatte herausfinden wollen, wie "interaktive Computer-Hilfsmittel die intellektuellen Fähigkeiten vergrößern" können.
Vor tausend Computerspezialisten und Technikern zeigte Engelbart nicht weniger als die bis heute aktuelle Zukunft des Informationszeitalters. Zu den dort erstmals präsentierten Geräten und Konzepten gehören unter anderem: die Maus samt Mauspfeil, die Textverarbeitung, ein Videokonferenzsystem, der Hyperlink und ein kollaboratives Echtzeitsystem zur Textbearbeitung, eingebunden in eine Netzwerkstruktur namens on-line system (NLS).
Und wie als Beweis, dass Genie und Irrsinn dicht beieinander liegen, fand die Vorführung mit Hilfe des ersten Urahns von PowerPoint statt. Und doch sollte (neben dem Link) ein anderes gedankliches Konstrukt die größte Wirkmacht entfalten. Denn bis in die sechziger Jahre hinein waren Computer große Maschinen, die hauptsächlich mit papierenen Lochkarten gefüttert wurden und als Ergebnis endlose Papierbahnen bedruckten.
Engelbart hatte das grafische Interface entwickelt und so dem Bildschirm überhaupt erst den heutigen Sinn für den Computer gegeben. Dafür ersann er eine Metapher, die aus heutiger Sicht so naheliegt und so selbstverständlich daherkommt, dass man ganze Betriebssysteme danach benennen könnte: Fenster. Die Macht dieser Metapher prägt die digitale Welt bis heute, denn sie geht weit über eine grafische Annäherung hinaus. Das ganze Verständniskonzept des Computers ist darauf aufgebaut, vor sich ein Fenster in die digitale Welt zu sehen.
Und nun beginnt Doug Engelbarts digitale Großvision langsam, sich aufzulösen - und es könnte der Untergang der digitalen Welt sein, wie wir sie kennengelernt haben. Wie es sich für einen vernünftigen Weltuntergang gehört, geschieht es an mehreren Fronten gleichzeitig. Der Touchscreen etwa will nicht mehr so recht zur Fenstermetapher passen. Am Horizont zu erkennen sind Augmented-Reality Konzepte wie Google Glasses, Sixth Sense oder, noch weiter entfernt, digital bespielbare Kontaktlinsen, die die gesamte Welt zum Interface machen und eine heute noch verstörende Verschmelzung von digital und dinglich bedeuten werden.
Der Browser wird das fensterbasierte Betriebssystem auffressen
Aber in diesem Moment geschieht die Abschaffung der Fenstermetapher dadurch, dass der Nutzer immer kleinere Bildschirme verwendet, auf denen Bildschirm und Fenster identisch sind. Und gleichzeitig, auf größeren Computern, löst sich gewissermaßen die Wand um das Fenster herum auf: das Betriebssystem. Das erfolgreichste Betriebssystem des 20. Jahrhunderts trägt seinen Namen nicht zufällig, und es hat seine Schuldigkeit getan. Aber das Betriebssystem der Zukunft - an dem untrennbar auch das Fenster hängt - wird keines sein.
Schon 2008 sagte Google-Gründer Sergej Brin, dass Betriebssysteme auf einer veralteten Weltsicht basierten , und diese Sicht ist die Sicht aus Engelbarts Fenstern. Das unter nerdig orientierten Personen weltbekannte Webcomic xkcd, dessen Schöpfer mit ein paar Strichmännchen und Textblasen die digitale Welt besser erklärt als ungefähr alles und alle anderen, hat diese Entwicklung in ein einziges Bild gegossen . Den Streit der Betriebssysteme Mac vs. PC, das Geha vs. Pelikan der neunziger Jahre, erklärt er für irrelevant, weil ohnehin alles im Browser geschehe. Der Browser wird das fensterbasierte Betriebssystem auffressen und damit die bisher gelernte, metaphorisch geprägte Perspektive auf die digitale Welt. Bis sich schließlich auch der Browser selbst auflöst, weil jeder Pixel auf jedem Bildschirm ohnehin nur noch darstellt, was im Netz passiert.
Mit Tabs, Leisten und Plugins haben sich die Strukturen bereits verändert
Die Frage, was nach der Metapher des Fensters kommen wird, ist nicht einfach zu beantworten, noch ist der Browser dem klassischen Programmfenster scheinbar ähnlich. Aber mit Tabs, Leisten und Tausenden Plugins haben sich die Strukturen bereits aufgebrochen. Vielleicht findet sich in Engelbarts Geschichte bereits ein Hinweis auf den Nachfolger, auf die Art und Weise, wie die digitale Welt in Zukunft wahrgenommen werden wird. Mit welcher Metaphorik man sich also dem Netz nähern wird, weil Fenster in einer Augmented-Reality-Brille wirken würden wie ein Pferdegeschirr für den Segway.
Eine von Engelbarts Inspirationen stammte aus dem Zweiten Weltkrieg, wo er am Radarschirm gearbeitet hatte. Dessen ständige Aktualisierung der Daten samt simpler, grafischer Symbole floss in das Konzept des ersten digitalen Interfaces ein. Die Ursprünge des Worts Browser aber stammen aus einer ähnlichen Begriffswelt: Im medialen Sinn bedeutet das Verb "to browse" überfliegen, flüchtig überblicken, darüber hinwegziehen. Gut möglich, dass nach dem metaphorischen Weltuntergang des digitalen Fensters die Ära des Radars beginnt, als Flugnavigation durch die Datenwelt.
tl;dr
Die digitale Welt wird heute durch Fenster betrachtet. Mit dem Betriebssystem stirbt auch diese Metapher, es folgt: das Radar (ohne Gewähr).