Sascha Lobo

S.P.O.N. - Die Mensch-Maschine Die rote Linie ist Merkel

Die NSA missbraucht ihre Macht, überwacht die Uno und Nicht-Amerikaner - doch Angela Merkel sagt nichts. Im Handeln der Kanzlerin gibt es keine unüberschreitbare Grenze. Ihr radikaler Pragmatismus kennt nur eine Maßgabe: Machterhalt.

Dem Krim-Krieg in den 1850er Jahren zwischen England, Frankreich und dem Osmanischen Reich einerseits und Russland andererseits verdankt die Welt einige kulturelle Hinterlassenschaften. Der Earl of Cardigan erfand dort die nach ihm benannte Strickjacke. Die hohen Kosten des Krieges waren ein Grund, weshalb Russland später Alaska an die Vereinigten Staaten verkaufte. Es war aber auch die Geburtstunde einer besonderen Formulierung. Am 25. Oktober 1854 wurde die Schlacht von Balaklawa geschlagen, bei der das schottische 93. Regiment in roten Uniformen trotz Unterzahl eine dünne Verteidigungslinie  gegen die Russen aufrechterhielt. Der Begriff "rote Linie" markierte fortan in der Politik eine nur mit massiven Konsequenzen überschreitbare Grenze.

Zur Spähaffäre sind in Deutschland drei Politiker entscheidend: Ronald Pofalla als für Geheimdienste verantwortlicher Staatsminister, Hans-Peter Friedrich als verfassungsverantwortlicher Innenminister und Angela Merkel als Angela Merkel. Alle drei haben in einem Beruhigungskanon die tiefgreifendste Affäre der digitalen Welt für beendet erklärt. In den darauffolgenden Tagen wurde öffentlich:

Für die Reaktionen darauf nutzte die Bundesregierung die gesamte Klaviatur der politischen Egalheit: ignorieren, kleinreden, lieber erst mal ganz in Ruhe abwarten. Klar. Eine beendete Debatte ist beendet. Es wurde aber auch bekannt, dass der britische Premierminister David Cameron die Debatte ebenfalls hatte beenden wollen. Nur eben mit direkten Drohungen und antidemokratischen Einschüchterungen gegenüber der Presse.

Der unabhängige, nicht weisungsgebundene Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Markus Löning (FDP), sagte , hier sei "die rote Linie überschritten worden". Nicht, dass Merkel daraus öffentlich ernsthafte Konsequenzen gezogen hätte. Aber Lönings Formulierung wirkte doppelt entlarvend. Zum einen ist bemerkenswert, dass aus dieser Perspektive zuvor offenbar keine rote Linie überschritten worden war. Zum anderen aber brachte Lönings Kommentar etwas derart Offensichtliches zum Vorschein, dass es bisher ungenannt blieb: die völlige Abwesenheit von roten Linien für die Bundesregierung in digitalen Fragen.

Radikaler Pragmatismus statt klarer Ansagen

Es ist irrelevant, was durch die Snowden-Dokumente noch alles bekannt wird - Angela Merkel wird dafür eine beschwichtigende Begründung oder eine sandverläufige Verfahrensweise finden und ansonsten Nebelkerziges von sich geben. Kein Leak einer noch so umfassenden Internet-Überwachung wird eine rote Linie überschreiten können. Noch mehr als alles kann ja auch kein Geheimdienst ausspähen, damit wäre bei 100 Prozent eine natürliche Obergrenze erreicht. Nur eben keine rote Linie.

Genau deshalb ist Angela Merkels Sprache so absichtsvoll unscharf gehalten, wie die Journalistin Carolin Emcke aufschrieb . Genau deshalb muss selbst der Bundespräsident auch mit Blick auf die Regierung um mehr Klarheit im Wahlkampf bitten. Denn Deutlichkeit ist die Voraussetzung für jede Grenzziehung, also auch für jede rote Linie.

Angela Merkel arbeitet 160 Jahre nach Erfindung des Begriffs an der Abschaffung der roten Linie. Und außer bei der Finanzkrise wird diese Politikstrategie nirgends so sichtbar wie in der digitalen Welt und der Spähaffäre. Angela Merkel hat damit einen radikalen Pragmatismus perfektioniert, der ironischerweise noch zu Kohls Kanzlerzeiten von Gerhard Schröder gefordert wurde: "Radikaler Pragmatismus ist das Instrument, politische Handlungsfähigkeit zurückzuerobern." Merkel passen rote Linien einfach nicht ins Regierungskonzept und doppelt nicht in Wahlkampfzeiten. Schon das bloße Aufblitzen einer roten Linie am Horizont könnte das Wahlvolk beunruhigen, und Ruhe ist erste Merkel-Pflicht.

Überwachung des politischen Apparats? Geht gar nicht.

In diesem Kontext muss die bisher einzige, einigermaßen scharfe Reaktion von Merkel zur Spähaffäre betrachtet werden. Die fand am 1. Juli statt, als Regierungssprecher Seibert erklärte: "Das geht gar nicht."  Oha, doch eine rote Linie der Regierung? Diese Reaktion bezog sich nicht etwa auf grundrechtzersetzende Instrumente wie XKeyscore - sondern auf den Umstand, dass von der NSA auch EU-Vertretungen überwacht wurden. Denn diese Überwachung betraf direkt den politischen Apparat und damit letztlich Merkel persönlich. So erklärt sich Angela Merkels politische Auffassung: Die rote Linie bin ich. Alles andere ist verhandel- oder verargumentierbar.

Der Krim-Krieg gilt als Geburtsstunde der modernen Kriegsberichterstattung, denn zum ersten Mal konnten Fotokameras und Telegrafie eingesetzt werden. Die Artikel des ersten Kriegsberichterstatters William Russell  führten unmittelbar zum Sturz des britischen Premierministers. Aber auch zum ersten Militärzensurgesetz der modernen Geschichte, das Journalisten untersagte, kritisch über das britische Oberkommando zu berichten . David Cameron wäre begeistert gewesen.

tl;dr

Angela Merkel arbeitet an der politischen Abschaffung der roten Linie. Im Digitalen lässt sie erst gar keine roten Linien entstehen.

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