S.P.O.N. - Die Mensch-Maschine Auf der Suche nach dem Netzgral
Der digitalen Alltagskultur fehlt ein Standardsymbol. Vielleicht existiert es schon, aber ist zu selten, als dass es allgemein verständlich wäre. Oder zu intellektuell entlegen, als dass man es in einem gewöhnlichen Gespräch verwenden könnte. Das fehlende Sinnbild findet sich irgendwo im Symboldreieck zwischen dem Heiligen Gral, dem MacGuffin und Godot, vielleicht mit einer Spur Deus Ex Machina vermengt. Es soll den provisorischen Namen Netzgral tragen. Der Netzgral steht für die eine, einfache Lösung digitaler Probleme, und das Dilemma beginnt damit, dass es ihn nicht gibt. Vermutlich. Trotzdem ist der gesellschaftliche Umgang mit dem Internet vom Glauben an die Existenz eines Netzgrals geprägt. Die Erkennungsmerkmale eines Netzgrals sind:
- Das Problem wird radikal vereinfacht;
- das Problem hat deshalb eine einzelne, isolierbare, aber oft diffuse Lösung;
- die Lösung wird als Erlösung betrachtet.
Die Verfechter eines Netzgrals sind deshalb Kompromissen gegenüber unaufgeschlossen. Im Glauben an eine Einzellösung argumentieren sie mit dem Furor der Alternativlosigkeit, in der Vereinfachung neigen sie zur Einseitigkeit: Wenn man dreißig Argumente auf drei reduzieren will, lassen sich diejenigen viel geschmeidiger wegstreichen, die einem ohnehin nicht in den Kram passen.
Der derzeit meistdiskutierte Netzgral ist das leidige Leistungsschutzrecht. In einer Zeit, in der immer mehr Verlage ernsthaften Existenzbedrohungen ausgesetzt sind, muss doch a) jemand schuld sein und b) die Lösung in einem einzelnen Gesetz liegen. Allerdings existiert der Glaube an einen Netzgral ebenso bei den vermeintlich internetfreundlichen Fraktionen. Die oft von netzkundiger Seite vorgeschlagene Kultur-Flatrate etwa verdient inzwischen den Titel eines Ehrennetzgrals. Selbst die Unternehmen, die das Internet nicht bloß verstehen, sondern sind, zeigen dahingehend eine besorgniserregende Anfälligkeit.
Im Dezember 2012 präsentierte Twitter stolz eigene Fotofilter. Eine so offensichtliche und zugleich so hilflose Antwort auf den Erfolg der sozialen Foto-App Instagram, dass dahinter nur der Glaube an einen Netzgral stehen kann. So, als sei die reale Bedrohung von Twitter durch Instagram per Nachahmung abzuwenden, eine Twitter-eigene, von der Realität abgelöste Fotofilter-Bubble.
Diffuse Schlagwortantworten auf komplexe Fragestellungen sind hip
Und der digitale Datenschutz ist geradezu netzgralverseucht: Das digitale Radiergummi, eine strengere Facebook-Regulierung, das von der EU-Kommission vorangetriebene, einigermaßen bizarre Recht auf Vergessen - es netzgralt allerorten, diffuse Schlagwortantworten auf höchst komplexe Fragestellungen sind hip. Ebenso existiert eine Art Negativvariante des Netzgrals, bei der ein Problem ganz allein auf Google, Facebook oder die dummdreiste, bestechliche Politik zurückzuführen ist. Was wiederum eine eindimensionale Lösung sinnvoll erscheinen lässt. Das prominenteste Beispiel dafür ist der raue Umgangston im Internet, den selbst informierte Leute schlicht mit der Anonymität begründen.
Solche Weltvereinfachungen sind natürlich kein internetexklusives Verhalten. Im Gegenteil werden beim Netzgral in der nichtdigitalen Welt erlernte Muster ins Digitale übertragen. Nur treten beim digitalen Wandel so viele, so tiefgreifende Probleme mit so hoher Taktung auf, dass dort der Tagesbedarf an Heiligen Gralen besonders hoch ist. Hinter dem Netzgral steht der Wunsch nach einfachen Lösungen, deshalb braucht man einfache Probleme. Wenn die aber nicht vorhanden sind, häkelt man sich aus dem komplizierten, verworrenen Knäuel der Schwierigkeiten ein schön isoliertes, simples und leicht vermittelbares Problem.
Der Netzgral ist nichts anderes als der Wunsch, die Welt möge einfacher, begreifbarer, beherrschbarer sein, zusammengesetzt aus überschaubaren Gründen für begrenzbare Probleme. Dabei war das letzte monokausal begründbare Ereignis von Weltrang der Moment, in dem Isaac Newton ein Apfel auf den Kopf fiel.
Jobs und Jesus teilen sich Anfangs- und Endbuchstaben, mehr nicht
Damit entlarven sich Anhänger eines Netzgrals als Hoffnungstäter: Sie hoffen auf die eine Veränderung, die alles andere unverändert fortbestehen lässt, der Netzgral ist auch ein Symbol dafür, in Ruhe gelassen werden zu wollen. Ärgerlicherweise ist das kommende Jahrzehnt vermutlich eines der ungünstigsten für Leute, die einfach in Ruhe gelassen werden wollen. Und das in ungefähr allen Lebensbereichen, von der Euro-Krise bis zur Entwicklung der digitalen Gesellschaft.
Das Unheil, das der Glaube an einen Netzgral mit sich bringen kann, lässt sich an der jüngeren Vergangenheit ablesen. 2010 galten vielen Verlagen Apples Apps als Erlösung beim Erlösproblem im Internet - Axel-Springer-Verleger Mathias Döpfner rief ernsthaft zur Anbetung von Steve Jobs und seinem iPad auf . Die religiöse Anmutung ist kein Zufall: Der Netzgral bedient sich ähnlicher Mechanismen wie die Religion, die entstanden ist aus dem legitimen Wunsch, sich die überkomplizierte Welt zu erklären. 2012 ist klar, dass ein einzelner Mann, eine einzelne Unternehmung, ein einzelnes Gerät zwar zweitausend Jahre Glauben begründen konnte. Aber nicht im Alleingang die Verlagsbranche in der Bauart des 20. Jahrhunderts retten. Jobs und Jesus teilen sich Anfangs- und Endbuchstaben, mehr nicht.
Wer einen götzenhaften Netzgral verfolgt, ist schon auf beim ersten Schritt in die falsche Richtung unterwegs. Netzgrale binden Energie, können fatale Nebenwirkungen mit sich bringen, machen blind für Alternativen und bieten doch am Schluss nichts als die Enttäuschung der fehlenden Erlösung. Anstatt daraus zu lernen, betet Verleger Döpfner nun nicht mehr den Netzgral iPad an, sondern den Netzgral Leistungsschutzrecht. Denn damit wird dann wirklich alles gut. Ehrlich. Endlich.
tl;dr
Ein Netzgral ist die eine, einfache Lösung für komplexe digitale Probleme. Leider existiert er nicht, ansonsten ist er jedoch superschnafte.