
Messgeräte: Die Werkzeuge der Selbstvermesser
Selbstvermessung als Trend Ich bin der perfekte Zahlenmensch
Sie vermessen sich selbst. Blutdruck, Gewicht, Training, Schlaf, Stimmung, konsumierte Nahrung, Sex: Es gibt kaum eine Aktivität oder Körperfunktion, für die sich die Anhänger der Quantified-Self-Bewegung nicht interessieren. Ihr ganzes Leben fassen sie in Zahlen, Statistiken. Lassen es von Geräten erfassen, laden Updates online hoch. Die totale Selbstkontrolle.
Mogeln, sich die Wahrheit über den eigenen Lebensstil schönflunkern - all das funktioniert nicht mehr. Durch die digitale Selbstvermessung können sie ihr Leben, ihre Gesundheit optimieren, sagen Anhänger. Oder auch: Wer seinen Körper exakt beobachtet und die Ergebnisse so wissenschaftlich auswertet, wie es früher einmal nur bei Hochleistungssportlern getan wurde, ist in der Lage, seine Leistung zu steigern, den eigenen Körper zu hacken.
Einer der Gurus dieser Bewegung ist Tim Ferriss . Der 33-jährige US-Amerikaner hat gerade seinen zweiten Bestseller geschrieben - darüber, wie man mit minimalem Aufwand in irrsinnigem Tempo Körperfett verliert, leistungsfähiger wird, vermeintlich dauerhafte körperliche Schäden auskuriert, besseren Sex hat.
Ferriss ist ein besessener Selbsthacker. Einer, der Japanisch auf Übersetzerniveau lernt, obwohl ihm jemand gesagt hat, er habe kein Sprachtalent. Der Tanzen lernt, nur um wenige Monate später einen Weltrekord aufzustellen. Der mehr als 15 Kilogramm Muskelmasse in einem Monat aufbaut. Um zu diesen Ergebnissen zu kommen, analysiert Ferriss sich exakt selbst. Er empfiehlt, jede Mahlzeit zu fotografieren und das im Web zu veröffentlichen.
Stresslevel senken
Was das alles soll? Ferriss antwortet: "Außerhalb von Wissenschaft und Gesetz ist die Realität ziemlich verhandelbar."
So extrem wie Ferriss muss nicht jeder an die digitale Selbstvermessung herangehen. Tim Chang etwa, ein Silicon-Valley-Investor, erzählte der "Financial Times" auf einer Konferenz zu Quantified Self Ende Mai, wie er dank digitaler Selbstvermessung Stressfaktoren ausschaltet. Er ließ seinen Herzschlag aufzeichnen und auswerten - und stellte fest, dass sein Herz jeden Tag, wenn er auf dem Weg zur Arbeit im Auto saß, um die gleiche Uhrzeit zu rasen begann. Nun wählt er statt des Highways eine entspanntere, weniger befahrene Strecke - und konnte so, wie er sagt, sein Stresslevel senken.
Andere präsentierten auf der Konferenz, wie man digitale Selbstvermessung zum Umgang mit chronischen Krankheiten einsetzen kann. Asthmapolis etwa, ein Tracking-Tool, das auf einen Asthma-Inhalator aufgesteckt wird. Wann immer der Inhalator benutzt wird, werden GPS-Daten aufgezeichnet und in einem persönlichen Profil gespeichert. So merkt der Asthmakranke, an welchen Orten er häufig Anfälle bekommt und kann sie meiden - und wenn er die Daten veröffentlicht, damit möglicherweise sogar Leidensgenossen helfen.
Massentauglich wird die digitale Selbstvermessung wohl im Fitnessbereich. Auch Körperguru Ferriss empfiehlt, in diesem Bereich anzufangen - hier könne man eben am direktesten die Erfolge überwachen.
Sex-Daten für alle
Motivation durch Statistik - das ist ein Gedanke, den auch der Sportkonzern Nike schon früh erkannt hat: Vor fünf Jahren brachte er Nike+ auf den Markt - ein System, in dem Jogger zunächst mit Hilfe eines Sensors im Schuh, heute über das GPS-System ihres Smartphones ihre Strecke und Geschwindigkeit aufzeichnen können. Anfang 2010 brachte Adidas das Konkurrenzprodukt miCoach auf den Markt.
Das US-Blog thenextweb.com demonstrierte vor wenigen Tagen , wie schnell allzu detaillierte Angaben über die eigenen Aktivitäten peinlich werden können: Was Fitbit-Nutzer in ihr Profil einspeisen, ist - wenn sie dessen Einstellungen nicht verändern - öffentlich einsehbar. Zum Beispiel alle Angaben, die ein Nutzer über seine sexuelle Aktivität macht: wann, wie lange, wie viele Kalorien, verbunden mit wie viel Aufwand. Ist ja schließlich auch Sport.
Die sexuelle Performance ist statistisch vielleicht interessant, aber doch eher nichts, was selbst ein statistikversessener Selbstvermesser verbunden mit dem eigenen Namen frei ergooglebar publizieren möchte. Das merkten auch die Macher von Fitbit. Einen Tag, nachdem die Meldung im Netz die Runde machte, waren die Informationen über Google nicht mehr auffindbar. Und inzwischen ist es bei Fitbit sogar überhaupt nicht mehr möglich, Sex als körperliche Aktivität zu verbuchen. Irgendwo muss ja auch für noch so statistikversessene Selbstvermesser Schluss sein mit dem körpereigenen Datenstrom.
In Zukunft, so wiederholen begeisterte Selbstquantifizierer immer wieder, würden Daten mehr über uns aussagen als alles andere. Sie selbst sehen sich in der Regel als eine Art Selbstoffenbarungsavantgarde, als Pioniere.
Und wo bleibt die Romantik?
Der Medienforscher Ethan Zuckerman äußert da seine Zweifel. "Ich bin mir nicht so ganz sicher, ob diese Bewegung Mainstream wird oder die Prinzipien von wissenschaftlichen und medizinischen Methoden ändern wird", schreibt er in seinem Blog , als er von der Quantified-Self-Konferenz in Kalifornien zurückkehrt. Er selbst sei seit 25 Jahren ein "unfreiwilliger Selbstvermesser", schreibt er. Weil er Typ 1 Diabetes habe. Warum Leute all ihre Schritte, Kalorien, ihren Kaffeekonsum oder ihre REM-Schlafphasen freiwillig aufzeichnen wollen - das sei für ihn nur schwer zu verstehen.
Selbstquantifizierung ist eben ein höchst modernes Ideal, ein Bruch mit den Idealen vergangener Zeiten. Den Mensch in Zahlen zu erfassen, mit Daten zu beschreiben, ist nach wie vor vielen Menschen ein Gräuel. Das alte, seit der Romantik hochgehaltene Ideal beschrieb der Dichter Novalis 1800:
"Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen,
Wenn die, so singen oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt in's freie Leben,
Und in die Welt wird zurück begeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu echter Klarheit werden gatten,
Und man in Märchen und Gedichten
Erkennt die ewgen Weltgeschichten,
Dann fliegt vor Einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen sofort."
Der Romantiker erklärt die Technik der nüchternen Erfassung der Welt also zum falschen Bezugsrahmen, um das Menschliche und die Natur der Welt zu erfassen. Die Zahl sei kalt und blind und mache unfrei, nur Gefühl erschließe das wahre Wesen der Dinge. Spätestens mit der digitalen Revolution ab 1970 geriet solche Romantik unter die Räder.
Wer übrigens abnehmen will beim oben erwähnten "Singen oder Küssen", ist mit Ersterem besser bedient: Um 100 Kilokalorien zu verbrennen, müsste "Mann" (45 Jahre, 1,80 Meter groß, 80 Kilogramm schwer) geschätzt über 80 Minuten knutschen, sitzend singend braucht man nur knapp 55 Minuten dafür - und im Stehen ein Lied schmetternd nur 40 Minuten.
Aber vielleicht gibt es ja wirklich Daten, die man gar nicht wissen will.