Digitale Erregungszyklen Die Zeit des permanenten Skandals hat begonnen

Das digitale Zeitalter hat uns in eine Phase der ständigen Skandale geführt. Heute muss man nicht mehr berühmt sein, um zum Opfer zu werden, gleichzeitig kann jedermann einen Skandal auslösen. Neun Thesen zum Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter. Von Bernhard Pörksen und Hanne Detel.
Foto: Corbis

1. Jeder kann Skandale auslösen

Heute kann jeder einen Skandal auslösen. Allzweckwaffen der Skandalisierung - Smartphones und immer kleiner und leistungsfähiger werdende Handys mit Kamera- und Videofunktion - tragen die meisten von uns am Körper. Netzwerk- und Multimedia-Plattformen wie Facebook, Twitter oder YouTube, Blogs, persönliche Websites und Wikis sind die neuartigen Instrumente der Enthüllung. Sie liegen in den Händen aller.

2. Jeder kann Opfer werden

"Gegen Ohnmächtige oder kleine Leute", so einst der Publizist Johannes Gross, "bricht kein Skandal aus." Diese Diagnose stimmt nicht mehr. Man muss nicht prominent oder mächtig sein oder zur gesellschaftlichen Elite zählen. Enthüllungsgeschichten richten sich im digitalen Zeitalter in einem bislang unbekannten Ausmaß auch gegen Ohnmächtige und komplett Unschuldige. Auch Nichtigkeiten lassen sich nun skandalisieren; auch gänzlich Unbekannte können es zu zweifelhafter Ad-hoc-Berühmtheit bringen. Gesellschaftliche Fallhöhe ist kein Schlüsselkriterium mehr.

3. Die Macht liegt beim Publikum

Das Publikum ist die neue Macht. Das Publikum skandalisiert selbst, setzt eigene Themen, tritt in der Rolle des Archivars, des Informanten, des Beweis-Lieferanten und des Anklägers in Erscheinung. Damit verändert sich der bisher bekannte Dreischritt der Skandalisierung, der für das Gatekeeper-Zeitalter typisch war: Am Anfang stand einst die Normverletzung, es folgte die Enthüllung durch die Medien, schließlich - am Ende des Kommunikationsprozesses - die Empörung eines mehr oder minder effektiv alarmierten Publikums. Nun kann es sein, dass die Publikumsempörung den Auftakt bildet und etablierte Massenmedien zur Reaktion gezwungen werden.

4. Digitalisierte Daten sind die Grundlage

Die Digitalisierung ist die alles entscheidende Zäsur. Denn was in digitaler Form vorliegt, kann von Computern verarbeitet, beliebig vervielfältigt, blitzschnell um die Welt geschickt und simultan rezipiert werden. Eben weil digitalisierten Daten und Dokumenten diese "neue Leichtigkeit" (Peter Glaser), diese Möglichkeit zur totalen Transformation und zur globalen Präsenz eigen ist, können einzelne Textsplitter und Imagefragmente, Bilder und Filme zu kollektiv wirksamen Empörungsanlässen werden, die ein kaum fassbares, nicht mehr kalkulierbares Publikum erreichen. Die Digitalisierung macht den Skandal - im Verbund mit den Technologien des Web 2.0 - potentiell allgegenwärtig.

5. Kontrollmöglichkeiten sind äußerst gering

Die ohnehin bescheidenen Möglichkeiten der Kontrolle nehmen dramatisch ab. Die breite Streuung der Daten, ihre leichte Verfügbarkeit, die womöglich globale Verbreitung, die Permanenz ihrer Präsenz, die rasche Durchsuchbarkeit und leichte Rekombinierbarkeit, die schwierige Identifikation der Verursacher und Auslöser - all diese Merkmale lassen die mehr oder minder brachialen Formen des Skandalmanagements (Zensur- und Einschüchterungsversuche durch aggressive Medienanwälte, Korrekturen und Gegendarstellungen, die Schwärzung missliebiger Passagen in einem Buch etc.) als vergleichsweise hilflos erscheinen. Der Einzelne besitzt keine Möglichkeit mehr, seine Realitätsversion durchzusetzen, andere Realitäten effektiv zu verdrängen oder ganz und gar unsichtbar zu machen.

6. Zensurversuche kehren sich oft ins Gegenteil

Zensurversuche wirken oft kontraproduktiv. Sie erzeugen das Gegenteil dessen, was erreicht werden soll. Sie mobilisieren. Wer damit droht, einmal veröffentlichte Daten wieder aus dem Netz zu bannen, der macht sie in der Regel erst so richtig bekannt, sorgt für jede Menge Aufregung und eine Fülle von in Rekordgeschwindigkeit angefertigten, begeistert verbreiteten Kopien und lässt die Verbreitung von Daten mitunter als einen Akt der Rebellion erscheinen, als eine Art Gratis-Protest, dem man sich ohne größere zeitliche, ökonomische oder intellektuelle Unkosten anschließen kann. Das allgemeine Muster: Oft sind es gerade die Versuche der Informationskontrolle, die den Kontrollverlust provozieren.

7. Der digitale Skandal ist zeitlos

Den digitalen Skandal charakterisiert eine eigene Zeitform. Es ist die potentiell ewige Gegenwart. Der lineare Zeitpfeil, der von der Vergangenheit in die Gegenwart und von dort in die Zukunft weist, ist unter den neuen Medienbedingungen gebrochen. Auch Vergangenes und gerade noch gnädig Versendetes - eine unbedachte Äußerung, eine idiotische Fehlleistung, ein unsympathisch wirkender Aussetzer - wird zur abrufbaren und bei Bedarf erneut aktualisierbaren Gegenwart, zum bedrohlich im Hintergrund brodelnden Zukunftsgift. Selbst marginales Fehlverhalten bleibt öffentlich abrufbar und womöglich weltweit präsent.

8. Permanente gegenseitige Überwachung

Das digitale Panoptikum der Gegenwart ist selbst fabriziert. Es ist nicht eine böse, fremde Macht, die uns überwacht. Wir alle beobachten und überwachen uns permanent gegenseitig. Auch sind es gerade die eigenen Datenspuren in Blogs, Chat-Protokollen, Facebook-Postings, Mailbox-, SMS- und Twitter-Botschaften, die womöglich eines Tages zu Dokumenten der Demontage und Blamage werden. Auf das Dauerrisiko des plötzlichen Reputationsverlustes sind wir mental nicht vorbereitet. Niemand lebt in dem Gefühl, dass er immer und überall auf einer womöglich weltweit einsehbaren Bühne steht. Der kategorische Imperativ des digitalen Zeitalters lautet daher: "Handele stets so, dass Dir die öffentlichen Effekte Deines Handelns langfristig vertretbar erscheinen. Aber rechne damit, dass dies nichts nützt."

9. Machmal Aufklärung, manchmal grausames Spektakel

Der digitale Skandal ist nicht einfach gut oder schlecht, sondern hat seinen eigenen Schrecken und seine eigene Schönheit. Mal ist er einfach nur grausames Spektakel, mal dringend benötigte Aufklärung, die Folter und Gewalt beendet und den Sturz von gefährlichen Charismatikern, Despoten und Diktatoren vorantreibt. Alles hängt davon ab, wie die Publizisten der neuen Zeit, also wir alle, die Werkzeuge der Skandalisierung gebrauchen. Denn hinter dem Werkzeug und dem Medium steht immer noch ein einzelner, im Letzten verantwortlicher Mensch mit seinen guten oder schlechten Absichten, seinen guten oder schlechten Zielen, Sehnsüchten, Wünschen, Hoffnungen. Schon allein daraus folgt, dass Monoperspektiven und prinzipiell euphorische oder kulturpessimistische Positionen unsinnig sind, weil sie die Vielfalt der Verwendungszwecke übersehen.

Im Übrigen gilt: Auch das Netz ist nicht einfach gut oder schlecht. Die neuen Manichäer aktueller Debatten, die so fein säuberlich zwischen Licht und Finsternis zu unterscheiden wissen, marschieren in die Irre, weil sie über Algorithmen, Medien und Technologien entweder überschäumend begeistert oder nur noch erschrocken und schockiert reden - aber immer so, als wären diese Werkzeuge so etwas wie eigenmächtig und stets berechenbar handelnde Wesen, Entitäten mit einer prinzipiell festgelegten Natur. Aber das sind sie nicht. Wir selbst sind es, die publizieren, was uns wichtig, brisant und interessant oder eben auch skandalös erscheint.

Die hier vorgestellten Thesen gehen auf das gemeinsame Buch der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen und Hanne Detel zurück.

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