Sascha Lobo

Social-Media-Häme gegen Lambrecht Muss eine Ministerin Instagram beherrschen?

Sascha Lobo
Eine Kolumne von Sascha Lobo
Das Silvestervideo der Verteidigungsministerin war unprofessionell. Aber ein Rücktrittsgrund? Solche Überhöhungen entstehen, weil das Social-Media-Publikum erwartungsradikal ist.
Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht: Bocklos in die Kamera gesprochen

Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht: Bocklos in die Kamera gesprochen

Foto: TOBIAS SCHWARZ / AFP

Wie gut muss man als Ministerin Social Media können? Gibt es eine Untergrenze der Instagram-Fähigkeiten, ab der die Eignung als Regierungsmitglied infrage steht? Die Frage scheint merkwürdig und oberflächlich zugleich, aber es steckt mehr dahinter: die Erwartungsradikalität des sozialmedialen 21. Jahrhunderts.

Die Verteidigungsministerin hat ein viel besprochenes und weltweit verspottetes Silvestervideo veröffentlicht , das alle, die es auch nur entfernt interessieren könnte, bereits gesehen haben dürften. Mit gruseliger Tonqualität, überlagert vom Berliner Silvestergetöse, spricht Lambrecht einen ungelenken und wenig ministerialen Text bocklos in die Kamera. Sie rekapituliert ihr 2022: »Mitten in Europa tobt ein Krieg. Und damit verbunden waren für mich ganz viele besondere Eindrücke, die ich gewinnen konnte – viele, viele Begegnungen mit interessanten und tollen Menschen.« Als Verteidigungsministerin aus dem Thema Krieg überleiten in die eigene »tolle« Erlebniswurstigkeit, dabei kein Wort zu den Opfern, das ist nicht mehr unsensibel, das ist schon ein Video-Mahnmal im ewigen Gedenken des unbekannten Social-Media-Beraters.

Man könnte das Instagram-Video unter Ungeschicktheit, Unprofessionalität oder Nachlässigkeit abhaken. Aber dafür ist es ein allzu treffendes Symbol für ein größeres Problem unserer Zeit, das in einem Tweet  so beschrieben wird: »Ich finde es ja doch höchst interessant wie man in Deutschland als Politiker*in in höchste Ämter kommen kann und gleichzeitig VOLLKOMMEN UNFÄHIG in der Außenkommunikation sein kann.«

Eine große Zahl von Reaktionen auf Lambrechts zweifellos unkluges Silvestervideo geht in die gleiche Richtung. Und sie betreffen eine Ministerin, der ohnehin kein gelungener Lauf in der Öffentlichkeitsarbeit unterstellt werden darf.

Unvergessen die ungünstig verargumentierte Reise ihres Sohnes im Bundeswehrhubschrauber , der davon auch noch Fotos auf Instagram veröffentlichte. Oder als sie in ihrer Regierungserklärung behauptete, der Flugabwehrpanzer Gepard sei kein Panzer. Um sich dann aufs Infantilste selbst zu widersprechen: »Der Gepard ist ja dafür da, Infrastruktur zu schützen , dadurch, dass er dann mit diesem Rohr in die Luft schießt«.

Überfällige Veränderung in der politischen Kommunikation

Im ersten politischen Halbjahr bekamen Annalena Baerbock und Robert Habeck viel Lob für einen neuen politischen Stil, der sich vor allem in der Kommunikation bemerkbar machte. Insbesondere bei Habeck wurde hervorgehoben, dass er menschlich erscheine, weil er Zweifel und Abwägungen erkennen lasse und so das Publikum in seine Entscheidungen miteinbeziehe, übrigens ebenfalls in einem Instagram-Video. Selbst von Konservativen bekam Habeck Unterstützung, bis ihnen wenig später dieser Grünen-Applaus mulmig wurde und Habeck für einen weniger gelungenen Talkshow-Auftritt unverhältnismäßig kritisiert wurde.

In jedem Fall aber handelt es sich um Anzeichen einer überfälligen Veränderung in der politischen Kommunikation, die mit den sozialen Medien einhergeht. Sich jederzeit direkt ans Publikum zu richten, ist in den letzten Jahren von der Möglichkeit zur Selbstverständlichkeit geworden. Seit jeher gehört es zur demokratischen Politik, diese den Wählenden auch zu erklären – aber heute geschieht das nach anderen Regeln. Die vielleicht wichtigste ist, dass mit sozialen Medien ein Echtzeit-Rückkanal entstanden ist, der potenziell jede Kommunikation zum unignorierbaren Dialog macht.

Hier kommt eine Eigenschaft ins Spiel, die in manchen Social-Media-Zirkeln schon lange zu beobachten ist, die sich aber in den letzten sechs, sieben Jahren verselbständigt zu haben scheint, und zwar mit und durch soziale Medien: die oben erwähnte Erwartungsradikalität des Publikums.

Ich verstehe darunter die weit verbreitete Bereitschaft, aus Details extrem weitreichende Schlussfolgerungen zu ziehen. Pars pro toto heißt dieser Mechanismus als Sprachfigur im Lateinischen. Im Fall Lambrecht wäre das, ein unprofessionelles, misslungenes, unsensibles Video als Zeichen für eine komplette ministeriale Unfähigkeit zu halten und deshalb als Rücktrittsgrund zu betrachten, wie es Markus Söder und Friedrich Merz getan haben.

Ständige Bereitschaft zur Soforteskalation

Erwartungsradikalität bedeutet auch, jederzeit zur vollständigen Aufgabe aller Grautöne und Kontexte bereit zu sein. Mit der Erwartungsradikalität transportiert man deshalb die ständige Bereitschaft zur umfassenden Soforteskalation anhand von vermeintlichen oder tatsächlichen Kleinigkeiten. Im Extremfall bedeutet das sogar, dass für die Nichteskalation die eigenen Maßstäbe vollständig erfüllt sein müssen.

Es mag sich merkwürdig anhören, aber trotz der offensichtlichen Problematik muss Erwartungsradikalität nicht in jedem Fall als schlechte Eigenschaft verstanden werden. Denn manchmal werden in sozialen Medien tatsächlich vermeintliche Details transportiert, die aber auf ein Weltbild schließen lassen. In bestimmten Fällen reichen Details als Warnzeichen aus, um eine Aktion oder den Kontakt zu einer Person komplett abzubrechen, die netzaffine Jugend hat dafür den Begriff »red flag« aus dem Amerikanischen geborgt.

Erwartungsradikalität ist also zumindest auch eine Schutzfunktion, basierend auf Erfahrungswerten und Wahrscheinlichkeiten. Wer bedenkenlos das N-Wort sagt, mag vielleicht nicht immer Rassist*in nach Lexikon-Definition sein, aber die Wahrscheinlichkeit ist eben groß. So groß, dass man niemandem und speziell nicht Schwarzen Menschen zumuten kann, das jetzt aber bitteschön noch mal genauer herauszufinden. Zweite Chancen hängen direkt von der Verbockungsintensität der ersten Chance ab.

Anhaltendes Skandalisierungspotenzial

Die Kehrseite der Medaille ist offensichtlich: Wenn sich die Erwartungsradikalität in sozialen Medien abseits von weitestgehenden Eindeutigkeiten wie mit dem N-Wort Bahn bricht, dann entsteht eine detailversessene Unerbittlichkeit. In Sachen Lambrecht hat sich jemand kritisch geäußert, der das selbst unmittelbar erfahren hat. Armin Laschet, der sich im letzten Bundestagswahlkampf durch sein Grinsen zur falschen Zeit mutmaßlich um die Kanzlerschaft gebracht hat, twittert zum Video : »›Have they lost their mind in Berlin?‹ Ist dem Bundeskanzler eigentlich die Wirkung Deutschlands in Europa und der Welt völlig egal?«, wobei er mit dem ersten Satz einen Kommentar der Militärexpertin Ulrike Franke zitierte.

Das war politisch geschickt gespielt und sicher eine Art persönliche Genugtuung für Armin Laschet. Aber es macht das Problem mit der Erwartungsradikalität nicht kleiner. Denn die daraus resultierende Unerbittlichkeit ist schon in Echtzeit problematisch, aber in Verbindung mit dem Allarchiv des Internets ergibt sich ein umfassendes, anhaltendes Skandalisierungspotenzial. Was wiederum der Grund ist, weshalb so viele politische Figuren kurz vor ihren Amtsantritten plötzlich glauben, frühere Äußerungen in sozialen Medien löschen zu müssen. Um alles auch nur halbschwierig Erscheinende lieber nicht erklären oder gar rechtfertigen zu müssen.

Aber darin erscheint auch schon ein Teil der Lösung am Social-Media-Horizont, der auch im Fall Lambrecht sinnvoll sein könnte. Es ist müßig, vom Publikum die Abkehr von der Erwartungsradikalität zu verlangen, das wird nicht geschehen, und dafür hat sie auch zu viel teils positive, vor allem aber gut instrumentalisierbare Seiten. Ein Rezept aus Betroffenensicht aber könnte die Entwicklung einer Social-Media-Fehlerkultur sein.

Zu dieser Fehlerkultur gehört eine gewisse Fehlereinsicht, zu wissen, welche Kritik in sozialen Medien man ernst nehmen sollte und welche nicht, ein Verständnis für die richtige Art, um Entschuldigung zu bitten. Und es gehört dazu die Fähigkeit der Reflexion über die eigenen Positionen und Kommunikation. Das alles ist Teil eines Gespürs für die Öffentlichkeit, das heute in der Tat für politischen Erfolg essenziell ist.

Um die Eingangsfragen zu beantworten: Keine Minister*in muss Social Media können, aber jede Person mit derart viel Macht braucht ein ungefähres Gespür dafür, was in der Öffentlichkeit in Ordnung ist und was eher nicht. Oder zumindest Hilfskräfte mit einem solchen Gespür.

Aus meiner Sicht war das Lambrecht-Video wirklich Zeichen einer weitreichenden Unprofessionalität, aber eines, das man mit einem klug aufgebauten Gegenvideo kontern könnte. Denn in der Aufmerksamkeitsökonomie sticht das inszenierte Spektakel die Unerbittlichkeit. Aber dazu müsste Christine Lambrecht wohl erst soziale Medien verstehen und darüber hinaus mit Distanz zu sich und einer gewissen Dosis Humor arbeiten können.

Ich möchte nicht zu erwartungsradikal erscheinen, aber die Wahrscheinlichkeit, dass sie diese theoretische Chance ergreift und mit einem cleveren, angemessen unterhaltsamen Video ihre Kohlen aus dem Feuer holt, erscheint mir angesichts ihres bisherigen Kommunikations-Œuvres eher gering.

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