Sascha Lobo

Streitkultur Kann die Realität rassistisch sein?

Wer Rechten und Rechtsextremen etwas entgegensetzen möchte, muss auch unangenehme Wahrheiten zulassen. Dafür ist ein schmerzhafter Kurswechsel nötig.
Flüchtlinge erhalten Zertifikate für einen Deutschkurs

Flüchtlinge erhalten Zertifikate für einen Deutschkurs

Foto: Sebastian Kahnert/ picture alliance / dpa

Man könnte Fake News Fake News sein lassen und sich mit echten Nachrichten beschäftigen, die sind schlimm genug. Sieben junge Männer haben offenbar versucht, einen wohnungslosen Menschen anzuzünden. Die Tatverdächtigen sind Flüchtlinge aus Syrien und Libyen, einige davon polizeibekannt, unter anderem wegen Körperverletzung. Diese Tat hat über die Menschenverachtung hinaus große symbolische Wucht: Weihnachten, ein vollkommen wehrloser, schlafender Obdachloser, junge, männliche Flüchtlinge aus muslimischen Kulturkreisen und eine Videoaufnahme der mutmaßlichen Täter nach der Tat, die eine ausgelassen herumtollende Truppe zeigt: weniger Empathie geht kaum.

Wenn soziale Medien als gesellschaftlicher Seismograf verstanden werden, dann schlägt die Nadel gerade sehr heftig aus, was die Debatte um Sicherheit und Integration angeht. In Richtung einer Empörung, die dazu beitragen könnte, im Wahljahr 2017 rechte und rechtsextreme Kräfte in die Parlamente zu spülen.

Debatten funktionieren symbolorientiert

Die Gründe für diese Empörung sind neben der Berliner Tat - eben nicht nur Fake News, sondern dass es in letzter Zeit relativ häufig aufsehenerregende Fälle gab, bei denen Menschen mit ausländischer Herkunft beteiligt waren. Der islamistische Anschlag in Berlin mit zwölf Toten, verübt von einem tunesischen Mann. Ein Mann türkisch-kurdischer Herkunft schleift seine Ex-Partnerin am Seil hinter dem Auto her. Vergewaltigung und Mord in Freiburg, mutmaßlich durch einen afghanischen Flüchtling. Zuvor die gewalttätigen Silvestermobs in Köln und in anderen Städten, bei denen der Verdacht auf junge Männer aus Nordafrika fiel. Syrer, Libyer, Tunesier, türkisch-kurdische Herkunft, Afghane, Nordafrikaner.

Hilft es, in der Diskussion von Einzelfällen zu sprechen? Darauf hinzuweisen, dass die meisten Angriffe auf Obdachlose von Rechtsradikalen kommen? Zu erklären, dass der Mann türkisch-kurdischer Herkunft einen deutschen Pass hatte? Ja und nein. Es ist richtig und notwendig, solche Gewalttaten einzuordnen, Fakten und Details sprechen zu lassen statt Vermutungen und Pauschalisierungen.

Sich zu vergegenwärtigen, dass Deutschland zu den sichersten Ländern der Welt gehört. Dass Kriminalität kein reines Importphänomen ist, wie bei der Fixierung auf monströse Taten oft mitschwingt. Aber Debatten funktionieren symbolorientiert, einzelne Taten sind Anlässe, das Debattenfundament ist etwas Diffuses wie die öffentliche Empfindung der Realität. Hier spielen nicht nur einzelne Fälle eine Rolle, sondern auch mediale Vermittlung und die messbare Wirklichkeit, die sich am ehesten noch in Daten und Statistiken fassen lässt. Die These: Einzeltaten bekommen vor allem dann eine Debattenwucht, wenn sie als Symbol für allgemeine Entwicklungen stehen - das ist die Verbindung zwischen Taten und Daten.

Notwendiger Kurswechsel

Wenn man Rechten und Rechtsextremen etwas entgegensetzen möchte, wenn man wie ich glaubt, dass die einzige Chance ist, die Debatten auch im Netz in liberaldemokratische Fahrwasser zurückzuführen, dann muss ein Kurswechsel bei der Art der Argumentation stattfinden. Und dabei, fürchte ich, muss man in schmerzhafte Bereiche vordringen. Die Notwendigkeit für diesen Kurswechsel hat mit sozialen Medien zu tun, vor allem aber mit Daten, deren Veröffentlichung und Interpretation.

Wenn man im Zeitalter der digitalen Vernetzung von der Zugänglichkeit öffentlicher Daten spricht, wenn man weitestgehende behördliche Transparenz für richtig hält, wenn man grundsätzlich glaubt, dass korrekt erhobene und ausgewertete Daten helfen, die Welt besser zu begreifen - dann muss man sich als Streiter für eine liberale Gesellschaft ohne Diskriminierung auch mit den Statistiken auseinandersetzen, die einem nicht in den Kram passen. Besonders mit denen. Denn sie werden im Wahlkampf eine entscheidende Rolle spielen. Sie werden, in Verbindung mit kommenden Horrortaten, Stimmungen erzeugen oder festigen.

Blick in die Ferne

Ein Blick in die Ferne hilft, das eigene Umfeld zu verstehen. In Australien gibt es (wie fast überall) eine Epidemie häuslicher Gewalt gegen Frauen. Im November 2016 fand dazu ein überparteilicher Politikgipfel statt, bei dem eine Abordnung von Aborigines empfangen wurde. Denn indigene Frauen sind unfassbare 34-mal  häufiger Opfer häuslicher Gewalt als nichtindigene Australierinnen. 34-mal häufiger. Diese Zahl klingt kaum fassbar, aber auch unabhängige Fact Checker  halten sie für realistisch.

Daraus ergeben sich drängende Fragen, die mit einem gewissen Abstand (16.000 Kilometer) vielleicht einfacher zu beantworten sind: Wie kann man mit diesen Fakten umgehen, ohne rassistisch zu argumentieren? Wie kann man gegen diese Gewaltepidemie mit angemessenen Mitteln ankämpfen, ohne Aborigines vorzuverurteilen? Wie also geht man mit einer Datenlage um, die auf ein massives Problem innerhalb einer Bevölkerungsgruppe oder Minderheit hinweist? Platt gefragt: Kann die Realität rassistisch sein?

Die Polizei im rot-grün regierten Nordrhein-Westfalen stellt zur Kriminalitätsentwicklung umfangreiches Datenmaterial zur Verfügung, auch Statistiken über nichtdeutsche Tatverdächtige. Die Zahlen sind hart: für 38% der Tötungsdelikte gibt es nichtdeutsche Tatverdächtige, für 41% der Raubdelikte und Autodiebstähle, 48% der Wohnungseinbrüche und für heftige 80% der Taschendiebstähle.

Natürlich müssen diese Zahlen von 2015 in den richtigen Kontext gesetzt werden und können nicht seriös  mit dem Ausländeranteil in Deutschland (rund 10,5%) verglichen werden. Die Polizei erklärt, dass natürlich nur bei aufgeklärten Fällen die Staatsangehörigkeit bekannt ist. Dass reisende Täter und Touristen die Statistik verzerren. Dass bei rund der Hälfte der Fälle über die Tatverdächtigen nichts bekannt sei und man nicht von den Erwischten auf die nicht Erwischten schließen dürfe. Dass bei dieser Statistik die "zum Teil sehr großen strukturellen Unterschiede nach Alter, Lebensumständen und sozialer Lage unberücksichtigt" blieben. Diese Zahlen bilden (auch wenn sie korrekt sind) also nur einen Teil der Wirklichkeit ab und benötigen zwingend weitere Untersuchung und Interpretation.

Deshalb sind diese Einordnungen für politische Lösungen der Probleme essentiell, aber in der für das Superwahljahr 2017 entscheidenden Debatte ist ihre Wirkung gering. Wenn auf Facebook jemand schreibt: "80% der Taschendiebe in NRW sind Ausländer" - dann ist eine soziodemografisch relativierende Antwort der Sorte "Aber es sind nur 39,4%, wenn man Alter und sozialen Status berücksichtigt" meiner Erfahrung nach in den sozialen Medien nicht besonders überzeugend. Erst recht nicht, wenn sie flankiert werden von einer Reihe horribler Taten wie den oben aufgelisteten.

Unangenehme Daten dürfen nicht ignoriert werden

Kann die Realität, abgebildet mit Statistiken, rassistisch sein? Nein. Die Debatte um Sicherheit und Integration muss aber so geführt werden, dass vermeintlich oder tatsächlich unangenehme Daten nicht ignoriert oder gar verschwiegen werden müssen. Anders formuliert: Wer nur mithilfe der "richtigen" Datenlage liberal ist, kann sich seine liberale Haltung in die Haare schmieren. Egal wie schlimm die Welt ist - es gibt nicht die eine Statistik oder die einzelne Tat, mit der Rassismus plötzlich okay wäre.

Das heißt umgekehrt aber auch, dass man unangenehme Fakten aushalten können muss. Und weil die Welt verdatet ist weil die Digitalisierung alles messbar macht, weil E-Government auf dem Vormarsch ist - werden mehr Daten, Statistiken, Auswertungen kommen. Zweifellos aus Sicht einer liberalen Gesellschaft auch sehr bittere. Im Kontext der sich scheinbar häufenden Taten von Flüchtlingen bedeutet das: Eine statistisch vorhandene oder nicht vorhandene Rechtschaffenheit war nicht der Grund, weshalb es richtig war und ist, Asyl zu gewähren. Deutschland hat Flüchtlinge aufgenommen, um den Ansprüchen an die eigene Menschlichkeit zu genügen.

Es hilft nur die Flucht nach vorne

Und wo bleibt das Schmerzhafte? Wenn man je nach aktueller Statistik seine Werte glaubt anpassen zu müssen, ist man ein Idiot. Aber wenn man seine Handlungen nicht der Realität anpasst, ist man auch ein Idiot. Ich glaube, dass es in der Debatte um Sicherheit und Integration nur die Flucht nach vorn gibt. Dass es nicht hilft, sich für die Argumentation gegen Rechte und Rechtsextreme nur die gut passenden Daten und Statistiken herauszusuchen, zum Beispiel, dass Flüchtlinge im Schnitt ähnlich kriminell sind wie Deutsche. Sondern auch die Daten, die den Eindruck stützen: Ja, es gibt massive Probleme.

Etwa mit der Integration muslimischer Jugendlicher, zu allerseitigem Nachteil. Denn mangelnde Integration ist der perfekte Nährboden, auf dem Arschlöcher wachsen. Und gleichbedeutend mit der strukturellen Schwächung  der vielen, vielen Nichtarschlöcher. Erklärungen sind keine Entschuldigungen, erst recht nicht für Gewalt, aber sie weisen den Weg zu den Lösungen.

Multikulti als Erfolgsrezept für Sicherheit

Und die gibt es. Zum Beispiel - ausgerechnet - in Belgien, in der Kleinstadt Mechelen, 20 Kilometer entfernt vom berüchtigten Molenbeek. Dessen Bürgermeister Bart Somers ist eine Art personifizierter Albtraum der AfD, weil er Feuer nicht mit Feuer bekämpft. Sondern mit Multikulti. Seinen Ansatz erklärt er so: "Meine Politik ruht auf zwei Beinen, auf Sicherheit und auf Integration  … Ich begrüße Vielfalt, und ich versuche, eine inklusive Gesellschaft zu gestalten." Die Auflistung seiner politischen Instrumente hört sich an, als sei Somers der überdrehte Sohn von Wolfgang Schäuble und Claudia Roth: "Zero Tolerance", aber nur dort, wo es hilft. Eine strenge Antidiskriminierungslinie. Ausweitung der Videoüberwachung öffentlicher Plätze. Integration und Gleichberechtigung auch mit Druck auf die Ur-Mechelener. Eine Offensive für saubere Straßen. Investitionen in arme Viertel mit hohem Migrantenanteil. Überwachung und Kontrolle, aber durch eine "freundliche Polizei".

Und viele, auch symbolorientierte Aktionen für ein multikulturelles Gemeinschaftsgefühl: Beim Hunderte Jahre alten Mechelener "Umzug der Riesen" werden nicht mehr nur weiße, sondern auch braune und schwarze Figuren durch die Stadt getragen. Auf diese Weise hat Somers es geschafft, die Kriminalitätsrate in Mechelen dramatisch zu senken, die vor 15 Jahren zu den höchsten in Belgien gehörte. Multikulti als Erfolgsrezept für Sicherheit - kann es eine größere, schönere Schmach für Islamisten und Rechtsextreme gleichzeitig geben?

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