Populäre Messenger-App Telegram löscht rechtsterroristische Inhalte nur selten

Die Betreiber der Chat-App entfernen laut einer Studie nur jeden zehnten rechtsextremen Beitrag, der ihnen gemeldet wird. Die Livestream-Videos der Terroranschläge von Halle und Christchurch sind noch immer online.
Die Chat-App Telegram verzeichnet auch angesichts der Coronakrise steigende Nutzerzahlen

Die Chat-App Telegram verzeichnet auch angesichts der Coronakrise steigende Nutzerzahlen

Foto: Yuri Kadobnov / AFP

Videos von verstümmelten Leichen schwarzer Menschen, Aufrufe, Flüchtlinge auf dem offenen Meer mit einem Maschinengewehr zu erschießen und die Behauptung, der Holocaust sei die "größte Lüge der Geschichte": Solche rassistischen und rechtsextremen Inhalte werden laut einer neuen Studie der Organisation Jugendschutz.net über die Chat-App Telegram in öffentlichen Kanälen verbreitet.

Die bisher unveröffentlichte Studie mit dem Titel "Telegram: Zwischen Gewaltpropaganda und 'Infokrieg'" liegt dem SPIEGEL vor. Sie gibt einen Einblick, wie volksverhetzende, antisemitische und gewaltverherrlichende Inhalte dort beispielsweise in Form sogenannter Memes geteilt werden, also als Bild-Collagen mit kurzen begleitenden Sprüchen. So wird beispielsweise der mutmaßliche Lübcke-Mörder Stephan B. mit dem Spruch "Kill Them All" zum Vorbild stilisiert. Über das bekannte Bild des am Strand liegenden Alan Kurdi wird ein Neonazi-Skinhead montiert, der dem toten Flüchtlingskind auf den Hals springt.

Nach SPIEGEL-Recherchen sind auch die Livestream-Videos, die die Attentäter von Halle und von Christchurch gefilmt hatten, immer noch für jedermann abrufbar auf der Plattform zu finden. Telegram spielte gerade für die erste, massenhafte Verbreitung des Videos des Halle-Attentäters eine entscheidende Rolle . Die Videos sind in voller Länge abrufbar, inklusive der Todesschüsse. Sie können mit wenigen Klicks in öffentlichen Kanälen, die für ihre rechtsextremistischen Inhalte bekannt sind, angesehen werden und haben mehrere Zehntausend und in einem Fall mehr als 100.000 Aufrufe.

"Telegram ist zu einem wichtigen Knotenpunkt geworden, der rechtsextreme Akteure aus verschiedenen Spektren zusammenführt", heißt es in der Studie von Jugendschutz.net. Die Plattform würde die internationale Vernetzung des Rechtsextremismus stärken. Es würden Gefechtstaktiken und Anleitungen zum Waffenbau geteilt und Nachahmungstaten von Terroranschlägen ermutigt, schreiben die Autoren.

Trotz Meldung löscht das Unternehmen nur jeden zehnten Beitrag

Als Kompetenzzentrum von Bund und Ländern untersucht Jugendschutz.net auch den Umgang großer Internetunternehmen mit illegalen und jugendgefährdenden Inhalten. Für die aktuelle Studie wurden rund 200 klar illegale, rechtsextremistische Inhalte über eine interne Meldefunktion der App und per E-Mail an die Betreiber von Telegram gemeldet.

Laut der Studie sind nur knapp elf Prozent der gemeldeten Inhalte gelöscht worden. Die übrigen Inhalte, die wegen Volksverhetzung, verfassungsfeindlicher Kennzeichen oder Holocaust-Leugnung in Deutschland strafbar sind, blieben weiterhin online.

Telegram zeige kein proaktives Vorgehen gegen die drastischen Verstöße und reagiere nur unzureichend auf Meldungen, bilanzieren die Studienautoren. Telegram hat auf eine Anfrage des SPIEGEL mit Fragen zur Löschpraxis nicht geantwortet.

Wenn Sie interne Informationen darüber haben, wie Telegram oder andere Tech-Unternehmen mit extremistischen Inhalten umgehen, können Sie den Autor dieses Artikels per Mail kontaktieren . Sie können zur Kontaktaufnahme auch unseren anonymen Briefkasten für Informanten nutzen.

Weltweit steigende Nutzerzahlen

Wie einige andere Internetunternehmen zählt Telegram zu den Gewinnern der Corona-Pandemie. Ende April verkündete der russische Unternehmensgründer Pawel Durow, dass die App inzwischen von mehr als 400 Millionen Nutzern verwendet werde . In mehr als 20 Ländern sei Telegram während der Corona-Pandemie die am häufigsten heruntergeladene Social-App, hieß es. In Deutschland soll die App laut statistischen Erhebungen  angeblich rund acht Millionen tägliche Nutzer haben.

Durow, der in Medien gelegentlich als russischer Mark Zuckerberg bezeichnet wird, sah sich nach Konflikten mit dem russischen Staat gezwungen, die App nicht mehr von Russland aus zu betreiben. Laut eigenen Angaben sitzen die Entwickler nun in Dubai.  Ein Impressum gibt es auf der Website allerdings nicht. Staatsanwälte, die schon häufiger wegen Telegram-Inhalten ermittelten, berichten, dass das Unternehmen für sie nicht erreichbar sei.

DER SPIEGEL 29/2020

Der Erbschleicher

Warum Markus Söder plötzlich beste Chancen für die Merkel-Nachfolge hat

Zur Ausgabe

Rechtsextreme nutzen Telegram als Rückzugsort

In der Debatte über strafbare Hass-Postings in sozialen Netzwerken wird Telegram kaum beachtet. Experten warnen jedoch, dass das Netzwerk von Rechtsextremen als eine Art Rückzugsort genutzt wird, weil etablierte Plattformen wie Facebook oder Twitter Hass-Postings zunehmend löschen. In der vergangenen Woche hatten Werbekunden von Facebook erklärt, ihre Anzeigen zu stoppen, bis der Konzern seinen Kampf gegen Hass auf der Plattform forciert. Telegram hingegen verdient kein Geld mit Werbung, sondern wird laut eigenen Angaben von Durow selbst finanziert.

Anders als Facebook und andere Social-Media-Konzerne drohen Telegram durch das Netzwerkdurchsetzungsgesetz keine Strafen, wenn es illegale Inhalte nicht oder zu langsam löscht. Die App fällt nicht in den Geltungsbereich des Gesetzes, da sie als Messenger und nicht als soziales Netzwerk gewertet wird. Die Studie von Jugendschutz.net betont allerdings, dass öffentliche Kanäle inzwischen aufgrund vieler neuerer Interaktionsfunktionen wie Likes und Kommentare eher wie ein soziales Netzwerk funktionieren.

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten