Tim Berners-Lee über das Web "Nichts ist perfekt"

Tim Berners-Lee: "Es gibt einen gefährlichen Trend, das Web kontrollieren zu wollen"
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Tim Berners-Lee, 58, gilt als der Begründer des World Wide Web (WWW). Im März 1989 schrieb der Brite, damals Mitarbeiter am Kernforschungszentrum CERN, ein Papier namens "Informations-Management - Ein Vorschlag" . Daraus wurde zuerst ein erster Browser und schließlich das World Wide Web. Heute arbeitet Berners-Lee als Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und der Universität von Southampton.
SPIEGEL ONLINE: Sie gelten als Vater des World Wide Web. Wenn Sie heute auf das schauen, was sich aus Ihrer Idee entwickelt hat, tun Sie das mit Stolz, ungläubig oder eher mit Sorge?
Berners-Lee: Mit all diesen Gefühlen, ehrlich gesagt. Ich finde, dass alle Nutzer sehr stolz darauf sein können, was sie daraus gemacht haben - insbesondere auf den Geist der Zusammenarbeit, der diese wunderbare Entwicklung möglich gemacht hat. Andererseits ist all das bedroht, weil das Netz eine so mächtige Technologie geworden ist und alle Lebensbereiche berührt. Es gibt deshalb unter Regierungen, großen Organisationen und Konzernen einen gefährlichen Trend, das Web kontrollieren zu wollen.
SPIEGEL ONLINE: Nicht nur China und Iran versuchen, das Netz zu kontrollieren und seine Nutzer auszuspionieren. Auch die Geheimdienste ihres Heimatlands Großbritannien und der US-Regierung agieren wie Hacker, untergraben die Netzsicherheit und sogar Verschlüsselungsstandards. Wie groß ist der Vertrauensverlust, und wie kann man ihm begegnen?
Berners-Lee: Was vor allem deutlich wurde, ist der Mangel an Aufsicht und Kontrolle über die Spionagesysteme Großbritanniens und der USA. Das muss verändert werden. Jedes Land, das im Netz spioniert, etwa um Kriminalität zu bekämpfen, muss nachweisen, dass es im Zweifel über diese Maßnahmen Rechenschaft ablegen kann und die erlangten Informationen niemals missbraucht. Die Privatsphäre Einzelner muss respektiert werden, erbeutete Daten dürfen nicht kommerziell missbraucht werden. Die Snowden-Enthüllungen haben allerdings auch den großartigen Effekt, dass sich nun viel mehr Menschen über die Integrität des Internets Gedanken machen als je zuvor.
SPIEGEL ONLINE: Manche Staaten und Konzerne wollen nun regionale Datenhäfen bauen. Brasilien möchte internationale Anbieter zwingen, Nutzerdaten brasilianischer Kunden nur noch auf Servern im Land zu speichern, die deutsche Telekom diskutiert ein Schengen-Netz. Was halten Sie davon?
Berners-Lee: Jede Unterteilung des Netzes in Segmente ist eine sehr schlechte Idee. Der Grund für das explosive Wachstum war, dass das Web universell war. Es ist ohne Bezüge zu Ländergrenzen gewachsen. Auf sie stoßen wir erst, wenn wir das Netz auf Straftaten überwachen. Dazu braucht es Gesetze, und die sind an Nationen gebunden. Wir müssen sicherstellen, dass das Web ein offener Raum bleibt.
SPIEGEL ONLINE: Gemeinsam mit anderen starten Sie im Jubiläumsjahr eine Kampagne, um die Rechte von Netznutzern international zu formulieren und zu schützen. Was muss aus Ihrer Sicht in dieser Magna Charta festgeschrieben werden?
Berners-Lee: Ich möchte vor allem, dass wir gemeinsam darüber diskutieren. Wir haben dazu eine Webseite eingerichtet: webwewant.org . Wir sollten dieses Jahr dazu nutzen, die Werte zu definieren, auf denen wir als Nutzer bestehen werden. Es wäre schön, wenn die Staaten die Ergebnisse mit den bestehenden Gesetzen vergleichen und feststellen, wo es Handlungsbedarf gibt. Für mich gehört das Recht auf Privatsphäre dazu, das Recht, nicht ausspioniert und nicht am Zugang gehindert und blockiert zu werden. Auch der freie Zugang zu den kommerziellen Marktplätzen ist wichtig. Politische Webseiten sollten frei zugänglich sein - bis auf diejenigen, bei denen wir übereinkommen, dass sie illegale und schreckliche Inhalte transportieren. Und dann ist da natürlich das fundamentale Recht auf Zugang: Immer noch kann weniger als die Hälfte der Menschheit das Web nutzen.
SPIEGEL ONLINE: Wie wollen Sie das verändern?
Berners-Lee: Das Aufkommen des mobilen Netzes hilft uns sehr. Allerdings besitzen viele Menschen beispielsweise in Afrika maximal ein Zehn-Dollar-Handy ohne Browser. Die entscheidende Frage ist: Wie stark können wir den Preis für ein sehr einfaches Smartphone mit einem Webbrowser senken? Die nächste Frage wird die nach Datentarifen sein, die sich die Menschen leisten können. Und dann sollten wir sie dazu bringen, auch selbst zu schreiben, nicht nur zu lesen.
SPIEGEL ONLINE: Sie haben betont, das Web habe sich jenseits nationalstaatlicher Regulierung bestens entwickelt. Sehen Sie eine Rolle für die Politik bei diesem Prozess?
Berners-Lee: Wir haben über die Web Foundation eine Allianz für ein erschwingliches Internet gestartet (A4AI), in der Regierungen, Organisationen und Konzerne versuchen, die Widerstände zu brechen.
SPIEGEL ONLINE: Worin bestehen die?
Berners-Lee: Ein großes Problem sind vermeintliche "Zuckerbrot-Geschäfte", in denen große internationale Telekommunikationskonzerne einem Land versprechen, alle Schulen kostenlos an das Netz anzuschließen, wenn sie im Gegenzug Monopolanbieter werden können - das hält die Preise hoch und verhindert Innovation.
SPIEGEL ONLINE: Wenn Sie nach 25 Jahren zurückblicken: Gibt es so etwas wie den einen wichtigsten Meilenstein in der Entwicklung des Web?
Berners-Lee: Als ich damals in Genf beim Cern die Web-Technologie entwickelt habe, gab es ein konkurrierendes System namens Gopher. Ich fand es nicht so gut wie das Web, aber es war älter und hatte mehr Nutzer. Irgendwann sagte die Universität von Minnesota, die es entwickelt hatte, sie werde möglicherweise für kommerzielle Anwendungen Gebühren verlangen. Der Gopher-Verkehr nahm sofort ab, die Leute wechselten ins World Wide Web. Das Cern-Management erklärte daraufhin, ich kann mich sogar noch an das Datum erinnern, es war der 30. April 1993, dass es im Web keine solchen Gebühren geben werde. Das war ein wichtiger Schritt, denn er setzte einen Trend.
SPIEGEL ONLINE: Bislang wird das Netz von vielen Organisationen gesteuert, verwaltet und "regiert". Die USA spielen über die dort angesiedelte ICANN eine dominierende Rolle. Ist dieser sogenannte Multistakeholder-Ansatz auch für die kommenden 25 Jahre ein geeignetes Modell?
Berners-Lee: Nichts ist perfekt, und alle Lösungen mit vielen Beteiligten bedeuten harte Arbeit und eine Menge Kommunikation. Wir müssen den Prozess Schritt für Schritt reformieren. Die USA müssen die ICANN auch formal in die Unabhängigkeit entlassen. Und ja, ich denke, ein derart überarbeitetes Multistakeholder-Modell ist die richtige Lösung für die Zukunft.