Sascha Lobo

S.P.O.N. - Die Mensch-Maschine Erdogan wird wissen, weshalb er Twitter fürchtet

Katzenbilder, Pornos und Filmchen sind der Treibstoff, der soziale Netzwerke am Laufen hält, bis sie im Ernstfall gebraucht werden. Die Proteste in der Türkei sind ein solcher Fall. Sie zeigen, wie Twitter und Tumblr genutzt werden, um zu informieren und zu organisieren.
S.P.O.N. - Die Mensch-Maschine: Erdogan wird wissen, weshalb er Twitter fürchtet

S.P.O.N. - Die Mensch-Maschine: Erdogan wird wissen, weshalb er Twitter fürchtet

Foto: SPIEGEL ONLINE

"Es gibt jetzt eine Bedrohung namens Twitter. [...] Für mich sind die sozialen Medien die schlimmste Bedrohung der Gesellschaft." Dieses Zitat des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan vom 2. Juni 2013 zeigt nicht nur eine antidemokratische Gleichsetzung der Gesellschaft mit dem eigenen Machtapparat. Es verdeutlicht vor allem ein weiteres Mal die Funktion von Social Media in politischen Situationen: Soziale Medien sind die digitale Straße. Als Gerüchte aufkamen, die Datenübertragung der Mobilfunknetze in der Türkei werde abgeschaltet, öffneten viele Bürger in den Innenstädten ihre W-Lan-Netzwerke, um Protestierenden den Zugang zu beiden "Straßen" gleichzeitig zu ermöglichen.

Die Türkei gehört zu den Social-Media-vernarrtesten Ländern weltweit. Ende 2012 verwendeten 81 Prozent der Internetnutzer dort soziale Medien  (in Deutschland 42 Prozent). Auch deshalb markiert der türkische Bürgeraufstand eine neue Qualität. Die Funktionen der sozialen Medien spreizen sich auf, ergänzen und befruchten sich. Aus einzelnen, bekannten Elementen formt sich eine neue digitale Protestmaschinerie: eine soziale Netzwehr.

Nicht zufällig hebt Erdogan Twitter heraus. Denn Twitter fungiert gleichzeitig als Privatnachrichten-Ticker und Privat-Nachrichtenticker. Es stellt das digitale Nervensystem der Proteste dar. Per Hashtag - #occupygezi und #resistanbul - schafft Twitter eine Verbindung zu Multiplikatoren und Medien weltweit. Genau darin sieht der ebenso macht- wie imagefixierte Erdogan die größte Gefahr: sich seine sorgfältige Inszenierung des türkischen Staates von den lästigen Bürgern via Social Media kaputtmachen zu lassen.

Auf YouTube und Dailymotion wird laufend neues Material eingestellt, auf Plattformen wie Ustream senden Nutzer mit ihren Smartphones Live-Videos. Größere Verbreitung erfahren Zusammenschnitte von Handyclips , einzelnen Fotos und den Inhalten redaktioneller Medien. Diese Nachrichten-Remixes verunmöglichen die Kontrolle der Bewegtbilder. Dass die Fernsehsender sich Erdogan unterwerfen, steht für viele Protestierende außer Frage. Ein vielverbreitetes Bild zeigt Menschen vor dem türkischen Nachrichtensender NTV, die eine mit Geldscheinen beklebte Pappe hochhalten : "Sagt, was ihr kostet, wir zahlen es euch." CNN Turk sendete noch Pinguin-Dokus , als auf dem internationalen Muttersender längst berichtet wurde : ein Glaubwürdigkeits-GAU für die Marke CNN.

Klassische Blogs scheinen eine kleinere Rolle zu spielen als beim Arabischen Frühling und sich eher an die restliche Welt zu richten . Das deutet - anders als etwa 2011 in Ägypten - auf die spontane Entstehung der Proteste ohne lange Vorbereitung hin. Blogs sind vergleichsweise langsam und in Produktion und Konsum nur eingeschränkt handyfähig. Facebook ist wegen der Vielzahl der Teilöffentlichkeiten am schwierigsten einzuschätzen. Bei den über 30 Millionen türkischen Facebook-Nutzern aber sind die Unruhen das wichtigste Thema. Facebook bildet damit den Diskussionshumus, der den Demonstranten Rückhalt in der Bevölkerung vermittelt und auf dem Einzelaktionen gedeihen, wie das (angeblich) massenhafte Geldabheben bei Banken, die die staatstreuen Medien finanzieren.

Soziale Medien dokumentieren, emotionalisieren, mobilisieren

Ein anderes soziales Netzwerk ist neu in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt: Tumblr. Yahoo hatte es im Mai 2013 der jungen Nutzerschaft wegen gekauft und geschickt ignoriert, dass es hauptsächlich aus kaum vermarktbarer Pornografie, Katzenbildern und animierten Filmschnipseln besteht. Das Tumble-Log #occupygezi  aber zeigt mustergültig den fortgeschrittenen Funktionsumfang sozialer Medien in Krisensituationen. Der Name entspricht dem Hashtag #occupygezi, wodurch jedem Besucher selbsterklärend der nächste Schritt auf Twitter nahegebracht wird. Der Inhalt besteht zum einen aus verlinkten Filmen, Livestreams, Artikeln und Onlineaktionen. Zum anderen aber erfüllt Tumblr seine wichtigste Funktion auch hier: die Aufbereitung einer Bilderflut. Eine fortlaufende Foto-War-Story ergibt sich, eine bildbasierte, blitzbegreifbare Nachrichten-Narration.

Weil das Kuratieren, Kopieren und Weiterverbreiten von Bildern Tumblrs Essenz ist, lässt sich extrem schnell eine Auswahl der quer durch das Netz verbreiteten Bilder zusammenstellen. Der Mehrwert liegt auch in ihrer Zahl: Ein Foto lässt sich fälschen, in Krisensituationen gehören solche Maßnahmen zum Standardrepertoire. Hunderte Fotos innerhalb weniger Stunden aber lassen sich kaum mehr konsistent fälschen. Erst recht nicht, wenn sie dieselben Situationen aus verschiedenen Winkeln zeigen. Das bedeutet natürlich nicht, dass der entstehende Eindruck zu 100 Prozent der Realität vor Ort entsprechen muss. Aber die schiere Masse der Fotos wird so zum Qualitätskriterium: Sie stützen sich gegenseitig in ihren Bildaussagen - und das ist eine neue Qualität der sozialen Medien in politischen Krisen.

Im Kontrast zu den witzigen bis belanglosen Quatschfluten, die sonst Tumblr überschwemmen, ergibt sich ein Grundmuster sozialer Medien: Mit famosem Unfug wird die Maschinerie am Laufen gehalten, bis sie im Ernstfall tatsächlich benötigt wird. Natürlich bestehen Revolten zuallererst aus Leuten, die ihre Unversehrtheit mit ihrer physischen Präsenz auf der Straße riskieren. Aber soziale Medien greifen von Aufstand zu Aufstand immer stärker in den Verlauf ein, sie dokumentieren, emotionalisieren und mobilisieren, sie sorgen für Verbreitung innerhalb und außerhalb der revoltierenden Zirkel. Autokrat Erdogan wird wissen, weshalb er soziale Medien als "schlimmste Bedrohung" fürchtet.

tl;dr

Die türkische Revolte entwickelt eine neue Qualität der Wechselwirkung zwischen Straßenprotest und Social Media: Die soziale Netzwehr entsteht.


Anmerkung: Die Einschätzungen des Autors zur Funktionsweise der sozialen Medien in der Türkei sind temporärer Natur und müssen unter Vorbehalt als Zwischenstand betrachtet werden, schließlich ist die Revolte noch in vollem Gang, und das Ende sowie die Konsequenzen sind unabsehbar.

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