Überwachung Lauschangriff hoch zehn
Die Europäische Union hat große Pläne: Die gesamte mediale Kommunikation ihrer Bürger und Unternehmen, die sich langsam aber sicher für die neuen Medien wie Internet oder Mobilfunk erwärmen, soll auch im digitalen Zeitalter nicht dem "Auge und Ohr des Gesetzes" entgehen. Auf der Wunschliste der Sicherheitsbehörden ganz oben steht seit langem die Einrichtung eines internationalen Abhörsystems, das ihnen Zugang zu möglichst umfassenden Kommunikationsdaten gibt. Sie wollen dadurch endlich mit dem Spionagesystem ECHELON gleichziehen, das die Geheimdienste der USA, Großbritanniens, Neuseelands, Australiens sowie Kanadas bereits nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut haben, und das Vorbild an Perfektion und Reichweite sogar noch übertreffen. Effektive Verbrechensbekämpfung ist das Ziel, der Schutz von Grund- und Bürgerrechten muß demgegenüber zurückstehen. "Kein Datenpaket", fürchten Ute Bernhardt und Ingo Ruhmann, Vorstandsmitglieder des Forums InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIfF), soll "bei der Überwachung ausgelassen werden."
Die Ängste um Datenschutz und Freiheitsrechte sind nicht aus der Luft gegriffen. Die Arbeitsgruppe ENFOPOL des Europäischen Rats hat im September ein Papier mit Vorschlägen erstellt, wie die bestehenden Abhörmaßnahmen im Bereich Telekommunikation auf globale, satellitengestützte Mobilfunksysteme übertragen werden können. Derartige Dienste stehen momentan unmittelbar vor ihrer Einführung, Iridium plant die Inbetriebnahme ihres Systems noch für dieses Jahr. Andere Anbieter wie Teledesic wollen bis 2003 folgen und die globale Kommunikation auf eine neue Stufe heben.
Daneben geht es den Europolizisten auch um das Internet: sie fordern - wieder einmal - den uneingeschränkten Zugang zu "Daten im Klartext" oder die Bereitstellung von Nachschlüsseln, falls kryptographisch abgesicherte Botschaften durchs Netz geschickt werden. Die als "Ratsbeschluß" ausgewiesenen Dokumente hat das Netzmagazin "Telepolis" Anfang der Woche im Rahmen einer Artikelserie veröffentlicht und damit für Aufruhr in der Netzgemeinde, bei Datenschützern und Politikern gesorgt.
Was die ENFOPOL-Ratsgruppe im Detail fordert, läßt den Kritikern die Haare zu Berge stehen: Strafverfolgungsbehörden sollen Zugriff auf sämtliche "von der überwachten Einrichtung erzeugten Signale" in "Echtzeit" erhalten - vom Namen des Anrufers und Angerufenen über Rufnummernumschaltungen bis hin zu Mailboxaufzeichnungen. Auch auf Kontoverbindungsdaten oder Gebührenabrechnungen des Überwachten haben es die Lauscher abgesehen, bei Internet-Diensten verlangen sie die Übermittlung von Zugangscodes wie Paßwörtern oder PINs. Damit würde der Manipulation von Daten Tür und Tor geöffnet Nationale Vorschriften für die Erfordernis richterlicher Genehmigungen für die Schnüffelei könnten so umgegangen werden, urteilen Datenschützer. "Gebt uns alles, was Ihr habt", beschreibt das FIfF das schlichte Muster des Vorschlags. Die EU, die mit ihrer im Oktober in Kraft getretenen strengen Datenschutzrichtlinie Unternehmen willkürliches Datensammeln und die Erstellung von personenbezogenen Nutzerprofilen untersagt würde damit das Anlegen hochsensibler Datenbanken in den Polizeiämtern fördern und sich zur "Überwachungsunion" entwickeln.
Für die FDP-Bundestagsabgeordnete Sabine Leutheusser-Schnarrenberger zeigt der Entschließungsentwurf, "welche Dimensionen der Zugriff auf personenbezogene Daten und Bestandsdaten" annehmen könnte. Europäischen Polizeibehörden würde durch den "Lauschangriff hoch zehn" ein "demokratisch und nationalstaatlich nicht mehr kontrollierbares Instrument in die Hand gegeben", fürchtet auch der Internetexperte der SPD, Jörg Tauss. Alle momentanen Bemühungen um Datenschutz würden zunichte gemacht, empört sich der Bundestagsabgeordnete, der erst vor kurzem zusammen mit seiner Kollegin Ute Vogt ein umfassendes Eckwerte-Papier der SPD-Fraktion zum "Modernen Datenschutzrecht" entworfen hat. Ganz abgesehen davon sei ENFOPOL nicht finanzierbar, da die Kosten alle jetzigen Militärausgaben in der EU übertreffen würden.
Das Bundesinnenministerium kann den Rummel um ENFOPOL nicht verstehen. "Die im Internet kursierenden Papiere befinden sich auf der Arbeitsebene der einzelnen Ratsgremien und sind noch lange nicht abschließend beraten", weiß die Sprecherin Andrea Schumacher. Letztlich beruhe das von Österreich initiierte Dokument auf der Fortschreibung einer Entschließung der ENFOPOL-Gruppe von 1995 zur Verbesserung der polizeilichen Zusammenarbeit, dazugekommen sei nur die Einbeziehung neuer Medien. "In jedem Fall richten sich die vorgeschlagenen Maßnahmen aber nach nationalem Recht", versucht Schumacher die Gemüter zu beruhigen. Abhörwünsche der Behörden müßten in Deutschland in Einklang stehen mit der Strafprozeßordnung, dem Außenwirtschaftsgesetz sowie den Regelungen für die Geheimdienste.
"Die neuen ENFOPOL-Papiere entbehren jeglicher praktischer Relevanz", glaubt auch Siegmar Mosdorf, SPD-Staatssekretär im Wirtschaftsministerium. Auf Fachebene bezweifele man daher ressortübergreifend, ob die überarbeiteten ENFOPOL-Empfehlungen überhaupt erneut auf die Tagesordnung des Europäischen Rats gesetzt werden sollten. Vor allem die Aussagen zur Kryptographie lehnt Mosdorf ab, da Methoden wie Key Escrow oder Key Recovery, die zur Entschlüsselung einer Nachricht durch Sicherheitsbehörden nötig sind, von der Bundesregierung nicht befürwortet würden: "In Bonn fordert derzeit niemand ernsthaft ein Krypto-Verbot." Bis zum Frühjahr werde man im Rahmen einer interministeriellen Arbeitsgruppe unter Federführung des Wirtschaftsressorts Krypto-Guidelines mit "liberalem Duktus" aufstellen. Bleibt dann nur noch das Problem, die vom Telekommunikationsgesetz (TKG) geforderte, in ihrer ersten Version vom Frühjahr aber von der deutschen Wirtschaft vehement abgelehnten Telekommunikations-Überwachungsverordnung (TKÜV) damit in Einklang zu bringen.
Datenschützer aller Couleur halten die überarbeiteten ENFOPOL-Papiere trotz des Abwiegelns der Bundesregierung für überaus brisant. "Hier wird ein Zug auf eine Schiene gesetzt, die noch nicht ganz gebaut ist", erläutert Ruhmann vom FIfF. So würden auch im Bereich Kryptographie neue Begehrlichkeiten geweckt, selbst wenn einer europaweiten Kontrolle der Verschlüsselung nur mittelbar das Wort geredet würde.
"Heikel ist dabei vor allem der vorgeschlagene Zugriff auf Paßwörter und auf Bankverbindungsdaten", meint Ruhmann. Das stehe so im deutschen Gesetz noch nicht drin, ließe sich aber mit dem TKG in Einklang bringen: "Dort werden geschäftsmäßige Anbieter von Telekommunikation in Paragraph 89 dazu verpflichtet, 'Daten zum Vertragsverhältnis' an die Sicherheitsbehörden herauszugeben." Und was im Vertrag mit einem Provider zu stehen habe, könne man ja noch genauer festsetzen. Im TKG macht auch Lukas Gundermann, juristischer Fachexperte beim Kieler Landesdatenschutzbeauftragten, das eigentliche Problem für die Bundesrepublik aus: "Fast alles, was in den neuen ENFOPOL-Papieren aufgeführt wird, ist nach deutschem Recht schon machbar."
Die "weitgehende Parallelität zwischen den bestehenden deutschen Vorschriften und den ENFOPOL-Papieren" könne kaum ein Zufall sein und laße für die Zukunft nichts Gutes ahnen, urteilt Gundermann.
"Viele national getroffene Entscheidungen zur Sammlung und Verarbeitung von Daten zur Verfolgung von Kriminalität bekommen jetzt eine ganz andere Bedeutung und entfalten eine Dynmamik in Europa, die zu erheblichen Gefährdungen für den Schutz der Privatsphäre und der Persönlichkeitsrechte des Einzelnen führen wird", schließt sich Leutheusser-Schnarrenberger den Ängsten der Datenschützer an. Die ehemalige Justizministerin erwartet deswegen von der Bundesregierung, daß sie "den Zugriff von Behörden auf den gesamten Fernmeldeverkehr erheblich beschränkt" und dem Entschließungsentwurf von ENFOPOL "entschieden entgegentritt".
Ob mit den Kritikern der Überwachungspapiere in Regierung wie Opposition die weitere Aushöhlung der Bürgerrechte vermieden werden kann, wird sich voraussichtlich im nächsten Halbjahr der deutschen EU-Ratspräsidentschaft herausstellen. Die Europolizisten, mit Rückendeckung des amerikanischen FBI werden sich nicht leicht geschlagen geben. "Die seit Lebenszeiten bestehenden legalen oder illegalen Abhörmöglichkeiten", schreiben die Kryptoexperten Whitfield Diffie und Susan Landau in ihrem Buch "Privacy on the Line", "haben uns Generationen von Polizisten gebracht, die sich eine Welt ohne Lauschangriffe nicht mehr vorstellen können."