Videospiel "Fahrenheit" Endlich werden Geschichten erzählt
Lauscht man den führenden Hersteller von Videospielen, so gibt es eine Äußerung, die mit schöner Regelmäßigkeit auftaucht: Mit Games wird mehr Geld umgesetzt als an den Kinokassen - und trotzdem werden sie nicht ernst genommen. Neid spricht daraus. Neid über diejenigen, die es geschafft haben, als Kultur verstanden zu werden. Und das Unvermögen zu begreifen, dass sich Kultur nicht mit Aktienkursen und Verkaufszahlen messen lässt - sondern durch ihre Inhalte wirkt. Weshalb umso mehr auffällt, wenn tatsächlich ein Spiel wie "Fahrenheit" erscheint. Denn das zeigt, dass Videospiele tatsächlich eine neue Kunstform sein können: Intelligent, ergreifend und visionär.
"Ich habe angefangen, "Fahrenheit" zu planen, als ich merkte, wie frustriert ich von den meisten Videospielen war", sagte David Cage, der Produzent des Spieles in einem Interview. "Ich hatte das Gefühl, dass es eine stille Übereinkunft gab, dass Videospiele entweder vom Rennfahren, Zerstören oder Töten handeln. Es sind Spielzeuge für Kinder geworden, ohne kreative Ambition oder Vision."

Fahrenheit: Glaubwürdige Charaktere
Auch "Fahrenheit" handelt vom Tod, von einem Mord in der in der Toilette eines kleinen New Yorker Diners. Und von einem Mörder, der nicht weiß, warum er gemordet hat. Der herausfinden möchte, was geschehen ist. "Fahrenheit" handelt auch von den Polizisten, die den Mörder jagen, Carla Valenti und Tyler Miles. Vor allem handelt das Spiel von Menschen. Menschen mit ihren Eigenheiten und Schrulligkeiten, die man sofort lieb gewinnt, um die man sich kümmern möchte - und das als Spieler auch tun muss.
Einer davon ist Lucas Kane, der Mörder. Dem nimmt man sofort ab, dass er entsetzt ist über das, was geschehen ist, es nicht fassen kann - und nach einem Ausweg sucht, nach einer Erklärung. Eine andere Figur ist die Kellnerin des Diners, der man wünscht, dass sie die Trauer, den Schmerz und das Entsetzen über das Geschehene bewältigen wird. Und die in einer kurzen, aber anrührenden Szene von einem Streifenpolizisten in den Arm genommen und nach Hause geführt wird. Eine kleine Nebenrolle hat sie, aber eine, die klar macht, was es bedeuten kann, etwas Schreckliches zu erleben.
Eine Geschichte über Menschen erzählen
Sie zeigt auch, was es heißen kann, wenn sich Spieleentwickler an ein simples Rezept erinnern. Eines, mit dem das Kino groß geworden ist: Einfach eine Geschichte über Menschen zu erzählen. Geschieht das, kann nämlich auch ein Videospiel ergreifend sein. "Fahrenheit" besinnt sich darauf, dass Grafik nicht alles ist und erfindet damit ein Genre neu, das in den Anfangstagen der Videospiele eines der erfolgreichsten war: Adventures.
Da ging es darum, Rätsel zu lösen und mit jedem Puzzleteil, das man gefunden hat, eine Geschichte fortzuschreiben. Adventures bestanden anfangs nur aus Text, und schafften es, die Phantasie anzuregen, den Spieler davon träumen zu lassen, diese Geschichten mit eigenen Ideen zu füllen. Adventures führen heutzutage ein Nischenleben - trotz toller Geschichten wie "Syberia", "Grim Fandango" oder "The Longest Journey". Vielleicht auch, weil sich das Genre nur wenig weiter entwickelt hat, es mit immer gleichen Rätseln füllte - und etwas versprach, was es nicht einhalten konnte: Ein interaktiver Film zu sein. Denn die Handlungen hatten kaum Konsequenzen.
Bei "Fahrenheit" ist das anders: Das erfüllt dieses Versprechen mit neuem Leben. Hier kann man mit der Geschichte spielen, sie mit eigenen Vorstellungen füllen, sie selbst schreiben. "Was würde ich jetzt tun?" Das ist eine Frage, die sich jeder stellen muss, der das Spiel spielt - und die Antwort sofort umsetzen. So ist es dem Spieler überlassen, ob er den Tatort erstmal säubert, die Leiche notdürftig versteckt - oder kopflos auf die Straße rennt und damit Spuren hinterlässt.
Musik von David Lynchs Hauskomponisten
Das Spiel geht weiter - und so, wie man das Diner verlässt, finden es die Polizisten vor, die man nun am Tatort steuert. Die entweder einen geputzten Fußboden oder einem Toten vor dem Waschbecken finden. David Cage nennt das Prinzip, mit dem er "Fahrenheit" erzählt "Bending Stories", sich biegende Geschichten, und vergleicht das mit Gummibändern, die an einigen Stellen verknotet sind. Spieler können einzelne Stränge dehnen, sich ihren eigenen Weg suchen, und die Geschichte reagiert darauf.
An einigen Stellen kommen die verschiedenen Pfade wieder zusammen. Denn natürlich ist die Freiheit keine wirkliche. Sondern nur eine vom Autor vorgesehene Möglichkeit. Doch das Erforschen dieser Möglichkeiten macht den Reiz des Spiels aus. Und stellt den Spieler vor moralische Fragen: Soll man nun den kleinen Jungen retten, der im Eis eingebrochen ist und damit die Entdeckung riskieren oder zieht man feige von dannen? Egal, wie man sich entscheidet: Das Spiel geht weiter. Doch die Geschichte wird sich merken, was der Spieler getan hat - und entsprechend reagieren.
"Fahrenheit" ist ein Film, den die Zuschauer selbst gestalten. Ein Film, der schnell geschnitten ist, der nur manchmal etwas an Fahrt verliert. Teils, weil die Steuerung nicht ganz so intuitiv ist, wie sich die Entwickler das gedacht haben, teils weil die Story das furiose Anfangstempo nicht komplett durchhält. Doch immer wieder ist man begeistert: Von kleinen zauberhaften Momenten, von der wundervollen Musik von David Lynchs Hauskomponisten Angelo Badalamenti und davon, dass es jemand überhaupt gewagt hat, so ein Spiel zu machen. Eine Vision umzusetzen, von der man hoffen kann, dass sie ein Vorbild für die Spiele von morgen ist. Denn dann wäre die Spieleindustrie da angekommen, wo sie hin will: Beim ganz großen Kino.
"Fahrenheit" ist seit dem 16.9.2005 für PC, Playstation 2 und Xbox erhältlich; ca. 50 Euro; Demo für PC-Version unter www.atari.com/fahrenheit USK: ab 16 Jahren