Virale Videos Werben und Weltretten
Anno 1999 kursierte ein Werbespiel im Internet, das zum Inbegriff für "virales Marketing" wurde: das Moorhuhn. Millionenfach luden die Leute das Spiel herunter und vertrieben sich ihre Bürozeit damit. In puncto Reichweite und viraler Verbreitung war das alberne Game ein Erfolg epidemischer Dimension. Ob der Auftraggeber, ein namhafter Whisky-Hersteller, davon profitieren konnte, ist nicht überliefert.
Seitdem werden immer wieder virale Videos als Werbeträger für Produkte eingesetzt. Zunehmend machen aber auch soziale und politische Aktivisten und Nichtregierungsorganisationen (NGO) von diesem Marketinginstrument Gebrauch und werben mit den viralen Clips für ihre eigene gute Sache. Wenn Qualität und Message stimmen, haben die Clips großen Erfolg und kursieren tausendfach durchs Netz. Dabei ist es unerheblich, ob sie eine politische, humanitäre oder kommerzielle Aussage verkünden.
"Werbung ist eine Kulturform", sagt Spreeblick-Blogger Johnny Haeusler, der in der Jury für den Forward International Viral Video Award sitzt. "Wenn sie charmant und witzig daherkommt, können wir damit leben." Noch bis Freitag kann man sich davon selbst ein Bild machen und für den Publikumspreis aus 24 ausgewählten Clips abstimmen.
Edel sei der Mensch
Die viralen Videos von Nichtregierungsorganisationen erinnern oft an die kurzen Vorfilme im Kino mit ihrem Appell an das Zuschauergewissen. Ihr erhobener Zeigefinger erscheint nicht mehr ganz zeitgemäß. Videos wie " Against Animal Testing " oder " Human Rights: Landmines " tragen ihre Botschaft gleich im Titel und kommen ziemlich unmissverständlich in bisweilen drastischen Bildern auf den Punkt.
Dabei geht es auch etwas subtiler, wie der Clip " Bob Ross is alive " zeigt. Das Video imitiert einen typischen Fernsehmalkurs des amerikanischen Künstlers Bob Ross. In immer gleichen Redewendungen hatte dieser für seine Amateur-Maltechnik geworben. Hier jedoch wird aus der Anleitung für eine "Wüstendorf-Sonnenuntergangsszene" eine sarkastische Botschaft der niederländischen Nonprofit-Stiftung NoBEL, die sich gegen ethnische Säuberung in Afrika ausspricht.
Mach kaputt, was dich kaputt macht
Auch von politischen Aktivisten werden klare Botschaften bevorzugt. Gleich zwei Mal ist beim Viral-Video-Award die Bürgerinitiative "Mediaspree versenken" vertreten, die gegen die Bebauung des Berliner Spreeufers in Friedrichshain-Kreuzberg Stimmung macht und dabei ziemlich propagandistische Töne anschlägt. Einmal in Form einer charmanten Animation aus Pappe , ein anderes Mal in Form eines " dystopischen Investorenfilms ", der in einer gar nicht so fernen Zukunft spielt.
Ein globalisierungskritisches Video der Hochschule für Medien in Stuttgart zeigt die Geschichte eines T-Shirts zwischen Produktion und Entsorgung. " Rebel with a cause " verbindet seine ökologische Botschaft mit einer schicken Animationstechnik und zahlreichen Fakten, die zum Nachdenken anregen.
Experimentierfeld Internet
Igitt! Dieser Clip würde sicher niemals im Fernsehen oder Kino laufen. In " The Dentist " ist ein Zahnarzt bei der professionellen Zahnreinigung zu sehen, wie er sich die Lebensmittelrückstände aus den Zahnlücken seines Patienten heimlich in den Mund steckt. Geworben wird für eine Schokopraline mit dem Slogan "It's that good". Na lecker!
Auch " Say no to dirt " verletzt gezielt die Grenzen des guten Geschmacks und wirbt für ein Nischenprodukt: eine Toilette mit selbstreinigendem Klositz. Anderswo als im Netz wäre das verruchte Video kaum vorstellbar, das mit einer lustigen Pointe am Ende aufwartet. Offenbar dient das Internet der Werbebranche als Experimentierfeld, wo die Kreativen ihrer schmutzigen Phantasie freien Lauf lassen können.
Das Medium ist die Message
Das Video " Music using ONLY sounds from Windows XP and 98 " lässt alle Nerd-Herzen höher schlagen. Akustisch besteht der Clip nur aus einigen typischen Midi-Dateien der beiden PC-Betriebssysteme. Insbesondere die Sounds "Hinweis", "Kritischer Fehler" und "Alarm bei niedrigem Batteriestand", jedem Windows-Nutzer wohlvertraut, sind in die Komposition eingeflossen. Freundlicherweise listet Tonkünstler Robbie Lloyd am Ende des Videos alle verwendeten Windows-Sounds auf und zeigt deren Audiogramm.
Über 3,7 Millionen Mal ist der Clip bei YouTube bereits angeschaut worden und hat für begeisterte Kommentare gesorgt. Hier wird das Medium selbst zu Botschaft und zum Beleg für eine aktive Netzkultur, die noch den ödesten Industrietönen etwas Klangvolles abgewinnen kann.