Sascha Lobo

S.P.O.N. - Die Mensch-Maschine Die digitale Deutung des Dieseldebakels

Ging es in der VW-Affäre um mehr als manipulierte Abgastests? Mit seiner Motorsoftware könnte der Konzern auch versucht haben, längst veraltete Technik in die Zukunft zu retten.
VW-Logo: Digitales Vertrauen verspielt

VW-Logo: Digitales Vertrauen verspielt

Foto: Julian Stratenschulte/ dpa

Dreiundzwanzig Prozent Absturz an einem Tag. Zur Einordnung: Am entscheidenden 25. Oktober 1929, als die Weltwirtschaftskrise begann, fielen die Aktien auch nur um bis zu 30 Prozent. Leute, die vorgeben, sich mit Börsendingen über das Erraten hinaus auszukennen, meinen, der Kurssturz habe mit den möglichen Strafzahlungen von bis zu 18 Milliarden Euro zu tun. Aus Anlegersicht mag das stimmen. Aber die Anatomie dieses deutschen Dieseldebakels ist weniger aus der Perspektive der Börsen interessant als aus der Digitalen.

Der Betrug war nur möglich, weil eine so ausgeklügelte wie betrügerische Software Laborsituationen erkennen und den Motor in eine Art Diätmodus schalten konnte. Seit Jahren erkläre ich zu allen möglichen Gelegenheiten, die Autozukunft sei digital vernetzt, deshalb müsse VW ein Software-Konzern werden . In gewisser Weise sind sie das jetzt, nur anders als gedacht und erhofft. Die Konstellation weist nicht nur auf eine verstörende kriminelle Energie hin. Sie beweist auch erneut, dass eine neue Zeit angebrochen ist. Eine Zeit, in der für jedes Technologie-Unternehmen etwas so fragiles, so diffuses, so schwindsüchtiges wie "digitales Vertrauen" notwendig ist. Eigentlich.

Technologiehistorisch befinden wir uns am Beginn einer Art digitalen Kambrischen Explosion. Bei der Kambrischen Explosion entstanden vor 524 Millionen Jahren quasi über Nacht (eine rund fünf Millionen Jahre lange Nacht) beinahe alle heute bekannten Tierstämme, weil die Rahmenbedingungen sich entscheidend geändert hatten. Vorher prepelten drei Milliarden Jahre lang bloß ein paar Algen und Bakterien auf der Erde herum.

Maschinen, die lernen

Eine solche Explosion der digitalen Möglichkeiten hat begonnen. Drei Gründe dafür stechen zwischen vielen anderen hervor. Zum einen die Vernetzung, die hier nur eine kleine Rolle im Vordergrund spielt, dafür eine um so größere im Hintergrund. Zum zweiten die Sensorenflut, der eine Messwerte-, also eine Datenflut folgt. Zum dritten aber die digitale Intelligenz der Datenverarbeitung.

Damit ist nicht Künstliche Intelligenz gemeint, sondern die Vielfalt der Berechnungen, die heute mithilfe der sensorgewonnenen Datenflut möglich sind. Software kann dadurch inzwischen komplexeste Situationen erkennen und das Verhalten der Maschine anpassen. In den meisten Fällen sind wir im Alltag eher froh drüber. Im Silicon Valley wird unter dem Schlagwort Machine Learning die nächste Stufe dieser situativen Anpassungen entwickelt.

VW hat allem Anschein nach zwar kein Machine Learning, aber doch eine intelligente Anwendung programmiert, die sich bestimmten Situationen anpasst. Ein Vorzeigebeispiel kluger Technologie, das bestimmt im Rahmen irgendeines EU-Wettbewerbs prämiert worden wäre. Wenn es nicht der Täuschung und Gesetzesumgehung gedient hätte.

VW hat aus Gier sein digitales Vertrauen verspielt

Das ist die Essenz des Skandals: Die Komplexität, die situative Erkennung und die Anpassungsfähigkeit von Software sind so enorm, dass oft nur noch der Schöpfer einer Software sagen kann, was sie wirklich zu leisten vermag (oft nicht einmal der, aber das ist eine andere Abzweigung).

Ein moderner Oberklasse-Wagen trägt 100 Millionen Zeilen Code in sich, es ist kaum machbar, solche Volumina etwa durch Ämter ernsthaft prüfen zu lassen. Die von Software getriebene Welt der Technologie und mit ihr der gesamten Wirtschaft ist dabei, die Sphäre der Unüberprüfbarkeit zu betreten. Genau deshalb wird der Wert des "Digitalen Vertrauens" unersetzlich. VW hat dieses digitale Vertrauen verspielt, und zwar nicht durch Schusseligkeit, sondern aus Gier.

Und wegen Fortschrittsverkennung. Seit vielen Jahren ist absehbar, dass die Optimierbarkeit von Verbrennungsmotoren an ein Ende gelangen wird: Es gibt schlicht kein Null-Liter-Auto auf Benzinbasis. Die Lösung ist ebenso lange bekannt, nämlich Elektroautos, die in Verbindung mit effizienten Akkus und erneuerbaren Energien den Schadstoffausstoß fast irrelevant machen. Aber der große Vorsprung der deutschen Automobilkonzerne bezieht sich in erster Linie auf die Technologien rund um Verbrennungsmotoren. Und diesen Vorsprung möchte man auskosten, offensichtlich um jeden Preis.

Das gilt übrigens nicht nur für VW, die bloß als erste erwischt wurden. Sondern vermutlich auch für andere deutsche Hersteller. Deshalb ist eine Begebenheit von 2013 besonders interessant. Damals verhinderte die Bundesregierung schärfere Abgasnormen in der EU, just als die BMW-Hauptaktionäre über 600.000 Euro Parteispenden an Angela Merkels Partei überwiesen. Ebenso interessant ist in diesem Kontext, dass die Bundesregierung offensichtlich schon länger von der betrügerisch agierenden Software wusste , was wiederum zur politischen Dimension der Affäre wird. Nicht nur weil VW ein sehr staatsnaher Konzern ist: Staatsinteresse Verbrennungsmotor.

Völlig zu Recht fürchtet die gesamte deutsche Automobilindustrie deshalb den Tag, an dem der Verbrennungsmotor-Vorsprung egal wird: Das Benzinauto war eher ein Hardware-Produkt, das Elektroauto wird ein vernetztes Software-Produkt. Dabei ist es gar nicht so wichtig, ob der große Shift ins Digitale in zwei, fünf oder 15 Jahren kommt. Denn bei dieser nach den Regeln des Plattform-Kapitalismus neu ausgespielten Verschiebung müssen sich die deutschen Autohersteller völlig neu beweisen. Dafür hätten sie digitales Vertrauen gut gebrauchen können.

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Das digitale, deutsche Dieseldebakel kommt in Form einer betrügerisch agierenden Software daher. Ihre Funktion war, vor behördlichen Stellen und der Gesellschaft so zu tun, als ließe sich die Ära des Verbrennungsmotors noch endlos ausdehnen. Das ist die bestürzende Wahrheit: ein Code, beinahe eine digitale Verschwörung, letztlich erschaffen, um das Elektroauto noch ein paar Jahre aufzuhalten. Vielleicht ist der Kurssturz um 23 Prozent der geringste Verlust.

tl;dr

Der Software-Betrug von VW ist auch der Versuch, die Ära des Verbrennungsmotors zu verlängern - auf Kosten des digitalen E-Autos.

Anmerkung:

Der Autor hat in den letzten Jahren für verschiedene deutsche Autohersteller bezahlte Vorträge gehalten, darunter auch VW.

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