Vorratsdatenspeicherung "Mit 'Quick Freeze' droht ein Überwachungsstaat"

Als bürgerfreundliche Alternative zur Vorratsdatenspeicherung  gilt "Quick Freeze". Dabei werden Daten nur im Einzelfall eingefroren. Die Methode taugt nichts, sagt jedoch der Cybercrime-Fachmann Dieter Kochheim - und bekennt sich zur Überwachung im Internet.
Serverraum eines Unternehmens: "Man darf Alltagskriminalität nicht unterschätzen"

Serverraum eines Unternehmens: "Man darf Alltagskriminalität nicht unterschätzen"

Foto: Boris Roessler/ picture-alliance/ dpa

SPIEGEL ONLINE: Herr Kochheim, als "Cyberfahnder" beobachten Sie seit vier Jahren Kriminalität im Internet. Als Oberstaatsanwalt haben Sie tiefe Einblicke in die Justiz. Was für eine Rolle spielt Cybercrime im deutschen Rechtssystem?

Kochheim: Die Justiz tut zu wenig dagegen. Dabei entwickelt sich dieser Bereich ständig weiter, Cybercrime und normale Kriminalität wachsen zusammen. Ein einziger Fall von kombiniertem Hacking und Skimming verursachte 100 Millionen Euro Schaden!

Vorratsdatenspeicherung

SPIEGEL ONLINE: Ohne kein Kampf gegen Cybercrime, schreiben Sie in ihrem Cyberfahnder-Newsletter. Wie stehen Sie zu der als bürgerfreundlich beworbenen Alternative "Quick Freeze" , also dem fallweisen "einfrieren" von Verbindungsdaten auf Antrag der Strafverfolgungsbehörden?

Kochheim: "Quick Freeze" als echter Ersatz für die Vorratsdatenspeicherung würde die komplette Überwachung des Internets voraussetzen.

SPIEGEL ONLINE: Wie bitte?

Kochheim: "Quick Freeze" funktioniert nur bei aktuellen Anlässen. Sinnbildlich: Ich sehe etwas Verdächtiges und drücke auf den Knopf "Aufnahme". Wenn ich nach Ablauf der Speicherfrist für Verkehrsdaten - oft nur wenige Tage - bemerke, dass ich etwa Opfer einer Verleumdung oder eines Online-Betruges wurde, bringt mir "Quick Freeze" nichts mehr. Der Täter bleibt unentdeckt, weil die Verkehrsdaten längst gelöscht sind.

Das heißt: Nur wenn der Staat ständig diese Aufnahme-Taste drücken, also jedwede Internet- und Telekommunikation per se als verdächtig einstufen würde, könnte er mit "Quick Freeze" auch die strafrechtlich relevanten Daten mitschneiden. In so einem Orwell-Staat möchte ich nicht leben.

SPIEGEL ONLINE: Bürgerrechtler erwarten genau so einen Überwachungsstaat, sollte die Vorratsdatenspeicherung zurückkehren.

Kochheim: Eine vernünftig geregelte Vorratsdatenspeicherung ist bürgerfreundlicher als "Quick Freeze" alleine. Mit "Quick Freeze" sind die Ermittler immer unter Zeitdruck: Sie werden häufig Verkehrsdaten bei den Providern anfordern, egal, ob sie sie wirklich brauchen. Allein schon, um dem Anspruch der Strafprozessordnung Folge leisten zu können: nämlich alle Handlungen, die im Rahmen einer Ermittlung keinen Aufschub dulden, sofort zu unternehmen.

SPIEGEL ONLINE: Und mit der Vorratsdatenspeicherung …

Kochheim: … könnten Ermittler erst einmal andere Ermittlungsergebnisse abwarten und sich dann fragen: Würde eine Abfrage der Verbindungsdaten überhaupt etwas bringen?

Außerdem geht es ja nicht um die Inhalte der Kommunikation, sondern um Verkehrsdaten. Aus ihnen lassen sich Beziehungen und geografische Standorte des Endgerätes ableiten, aber keine Geständnisse, keine Gespräche zwischen Journalisten und ihren Informanten, Ärzten und ihren Patienten, Anwälten und ihren Mandanten und keine Informationen über das, was mit Verteidigern und anderen Berufshelfern kommuniziert wird.

SPIEGEL ONLINE: Trotzdem: Sind diese Daten erst einmal da, werden die Begehrlichkeiten groß.

Bundesverfassungsgericht

Kochheim: Natürlich ist eine vernünftige Regelung der Zugriffe auf diese Daten wichtig. Das sieht auch das so, für das die Berechtigung der Vorratsdatenspeicherung übrigens außer Frage steht …

SPIEGEL ONLINE: Den Verfassungsrichtern ging vor allem die Verwertung der im Rahmen der Vorratsdatenspeicherung erhobenen Daten zu weit.

Kochheim: Genau. Man muss nämlich zwischen zwei Grundrechtseingriffen unterscheiden. Die Speicherung der Daten - die eigentliche Vorratsdatenspeicherung - und ihre Verwertung durch Ermittler.

Wie das Verfassungsgericht habe auch ich überhaupt keine Probleme mit der Speicherung - solange der Staat nur bei schweren Straftaten Zugriff darauf hat; oder zur Entlastung, wenn Beschuldigte behaupten, zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht am Tatort gewesen zu sein.

Problematischer ist die Abfrage von Massendaten, zum Beispiel, wenn man etwa weiß, wann eine Tat erfolgte, aber nicht weiß, wer der Täter war. In der Praxis, zum Beispiel beim Skimming, versuchen wir das etwa in Kombination mit Aufzeichnungen von Überwachungskameras einzugrenzen. Wenn der Zugriff auf die Datenbanken auf das Nötigste beschränkt werden kann, halte ich das schon für einen riesigen Erfolg.

SPIEGEL ONLINE: Könnte der Staat nicht einfach auf die Rundum-Überwachung der Datenwege verzichten?

Kochheim: Nein. Das Fehlen der bevorrateten Verkehrsdaten zeigt sich längst schmerzvoll, wenn es um die Identifikation einzelner Täter geht. Die meisten Betrügereien, Verunglimpfungen und Alltagsstraftaten im Zusammenhang mit dem Internet können nicht strafverfolgt werden.

SPIEGEL ONLINE: Betrug, Verunglimpfung, Alltagsstraftaten … wollen Sie wirklich dafür die Privatsphäre von Millionen Bürgern aufs Spiel setzen?

Kochheim: Wenn allgemein bewusst würde, dass die Alltagskriminalität im Internet faktisch nicht mehr verfolgbar ist, hätte das dramatische Folgen: Verunsicherung und Frustration der Allgemeinheit, die Verhinderung der Rechtsstaatsgarantie für viele soziale und rechtliche Beziehungen.

Wenn Privatleuten im Zusammenhang mit dem Internet erst einmal klar wird, dass sie immer schnell handeln müssen, hilft kein Appell zur Gelassenheit oder zum "Einmal darüber schlafen" mehr. Sobald sie ein Ungemach erfahren, müssen sie über einen Anwalt zur Beweissicherung schreiten, weil sonst jede Ab- oder Gegenwehr mangels verfügbarer Verkehrsdaten ausgeschlossen sein kann.

SPIEGEL ONLINE: Ein Paradies für Abmahnanwälte?

Kochheim: Genau so funktionieren einige Abmahnmodelle, etwa bei Urheberrechten. Eine Recherchefirma überwacht den Datenverkehr zum Beispiel in Filesharing-Netzen und übergibt die protokollierten Verkehrsdaten an eine Anwaltskanzlei. Diese fragt unverzüglich die Bestandsdaten [beim Internetanbieter] ab und mahnt den Störer anschließend ab. Der Erlös wird untereinander nach festgelegten Anteilen verteilt.

SPIEGEL ONLINE: Mit "Quick Freeze" droht der Überwachungsstaat, ohne Vorratsdatenspeicherung der Zusammenbruch der Zivilgesellschaft. Herr Kochheim, ist das nicht ein wenig pessimistisch?

Kochheim: Man darf Alltagskriminalität nicht unterschätzen: Sie beeinträchtigt auf Dauer die Lebensqualität der Leute, ihre Opfer können den Glauben an den Rechtsstaat verlieren: "Ich kann mich ja eh nicht wehren.” Ich glaube, das wäre eine dramatische Situation.

Das Interview führte Felix Knoke
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