Sascha Lobo

S.P.O.N. - Die Mensch-Maschine Der immer wiederkehrende Zombie der Netzpolitik

Nach den Terroranschlägen auf "Charlie Hebdo" fordern Politiker und Behörden schon wieder die Vorratsdatenspeicherung. Dabei wirkt sie nicht. Und sie kann kein weltpolitisches Versagen ausbügeln.

Noch bevor man "Anstandsfrist" auf duden.de hätte nachschlagen können, begann die Instrumentalisierung der Pariser Anschläge. Angela Merkel selbst sprach sich zwar erst eine Woche nach den Morden für die Vorratsdatenspeicherung (VDS) aus. Der Innenminister und die CSU hatten aber schon zuvor deren vorgebliche Alternativlosigkeit gepriesen.

Kaum verwunderlich, sie wird seit vielen Jahren von der Union, maßgeblichen Teilen der SPD und einer Reihe Behörden als unverzichtbares Instrument der Verbrechensaufklärung und -prävention dargestellt. Die Vorratsdatenspeicherung ist der immer wiederkehrende Zombie der Netzpolitik. Das hat sich weder durch fehlende Nachweise der Wirksamkeit noch durch die Ablehnung des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs geändert.

Als konkrete Reaktion auf die Anschläge jedoch ist die erneute Forderung noch absurder als ohnehin schon. Denn in Frankreich gibt es die Vorratsdatenspeicherung seit 2006. Genau deshalb ist der Ruf entlarvend. Der Wunsch nach der VDS - nach immer mehr Überwachung insgesamt - beruht auf der Verinnerlichung eines Technologieversprechens durch die Politik: Terrorismus könnte durch die Analyse von mehr Daten verhindert werden.

Deshalb müssten immer mehr Daten erhoben und ausgewertet werden. Die angestrebte Datenmenge ist dabei stets "mehr!", egal wo man gerade steht. Die #VDS überschreitet zwar die existenzielle rote Linie, also die Überwachung von Unverdächtigen. Aber natürlich stellt sie nur einen Bruchteil der Überwachungswut im Vergleich zu den NSA-Instrumenten dar.

"Mehr statt besser" ist das Motto der Überwachungspolitik

In der Zeitschrift "New Yorker" ist ein glänzender Artikel von Mattathias Schwartz erschienen , der diesem Versprechen hinterherrecherchiert. Er beginnt mit einem Satz, dessen kaum überschätzbare Tragweite man sich erst erarbeiten muss: "In den letzten fünfzehn Jahren wurde beinahe jeder größere terroristische Angriff auf den Westen von Leuten ausgeführt, die den Behörden längst bekannt waren." Die erschütternde Quintessenz dieses unwiderlegbaren Satzes liefert Schwartz auch: "Die [Behörden] scheiterten daran, die Bedeutung derjenigen Daten zu erkennen, über die sie längst verfügten."

Ganz offensichtlich gilt das auch für Vorratsdaten, schlimmer noch: Die Pariser Attentäter standen auf allen möglichen Gefährder-Listen, waren einschlägig vorbestraft, hatten teilweise Terrorcamps besucht, standen in Kontakt mit bekannten Terrorzellen, hatten schon einmal Waffen besorgt, wurden von französischen Behörden überwacht, die Liste geht noch weiter, es ist aberwitzig. Wenn eine solche absurde Ballung vorhandener Daten nicht ausreicht, einen Terroranschlag zu verhindern - warum genau machen dann die Verbindungsdaten des Telefonats mit meiner Frau den Unterschied? Es ist, als würde die Feuerwehr das Haus neben dem brennenden Haus löschen. Und weil es nicht funktioniert, fordert sie einen zusätzlichen Schlauch an und erhöht den Wasserdruck. Es liegt nicht an fehlenden Daten, sondern an unzureichender Nutzung der vorhandenen Methoden. "Mehr statt besser", das ist das Motto der Überwachungspolitik. Weltweit.

Via Steuern bezahlen die Bürger ihre Überwachung selbst

Der IT-getriebene, milliardenschwere, unkontrollierbare Überwachungsmarkt hat sich verselbständigt. Unternehmen profitieren von der ständigen Vergrößerung des Marktes, die auftraggebenden Behörden aber auch: Ihr Verantwortungs- und Machtbereich weitet sich aus. Man muss diesen Markt als in sich geschlossenes System im wahrsten Sinn des Wortes begreifen, denn die Geheimhaltung verhindert fast jede Kontrolle, erst recht durch die eigentlichen Finanziers dieses Apparats.

Denn die Bürger bezahlen via Steuern mit Milliardenbeträgen ihre eigene Überwachung, die abgesehen von ihrer Grundrechtswidrigkeit nicht wirkt, weil mehr nicht besser ist. Und weil die Notwendigkeit neuer Projekte und die Auswertung bisheriger Projekte von den gleichen Leuten eingeschätzt wird, hat sich der Überwachungsmarkt in eine fatale Mischung aus Füllhorn und Einbahnstraße verwandelt. Von einem mangels Wirksamkeit eingestellten Überwachungsprogramm hört man niemals.

Die Politik ist hereingefallen auf ein ebenso altes wie hohles Technologieparadigma: Je mehr Daten, desto besser. Und die Politik wollte darauf hereinfallen, denn natürlich glaubt man gern den Versprechen der Überwachungsprofiteure, dass es eine technische Lösung gäbe für das Problem des Terrorismus. Es ist eine quasireligiöse, esoterische Hoffnung, dass die konzernunterstützte EDV-Abteilung des Staats ein weltpolitisches Versagen ausbügeln könne.

Solcher Unfug entsteht, wenn Datengläubigkeit kollidiert mit skrupellosem Marketing einerseits und massiver Unkenntnis von Technologie und ihren Möglichkeiten andererseits. Dahinter steht implizit auch die Überzeugung, dass sich die Welt und ihre chaotischen Systeme berechnen ließen, insbesondere in den irrationalen Sphären, die letztlich den Terrorismus so gefährlich machen. Dass deutsche Behörden auch ohne Wirksamkeitsbeweis auf die VDS drängen, ist nicht weiter merkwürdig. Weil sie nicht da ist, können sie stets einen angeblichen Grund für eventuelles Versagen präsentieren, der außerhalb ihres Verantwortungsbereichs liegt: "Mit Vorratsdatenspeicherung wäre das nicht passiert!"

Gespenstisch aber ist die Abkehr der Politik nicht nur von der Verfassung als Leitlinie, sondern auch vom Fundament der Aufklärung, der Rationalität. Jede neue Forderung nach der Vorratsdatenspeicherung ist ein Fanal der irrationalen Technikgläubigkeit, der Hoffnung einer technischen Lösung für ein gesellschaftliches Problem, des blinden Vertrauens in eine Technologie, die immer wieder aufs Neue ihre Dysfunktionalität beweist.

Tl;dr Die ständige Forderung nach der VDS zeigt: Politik und Behörden sind hereingefallen auf das hohle IT-Versprechen "Mehr Daten sind besser".

Lesen Sie hier ein Streitgespräch von zwei SPIEGEL-ONLINE-Redakteuren zur erneuten Forderung nach Vorratsdatenspeicherung in Deutschland.

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