Web-Event "Live Earth" Ruckel 'n' Roll

MSN jubelt über Millionenzahlen beim bisher größten Live-Web-Event, der Übertragung der "Live-Earth"-Konzerte. Dem Vergleich zum TV halten die Zahlen jedoch nicht stand. Ist es zu früh für IPTV - oder hat da wer was falsch gemacht?

IPTV, ein Kurzwort für Fernsehen via Internet, ist eines der Zauberworte dieses Jahres. Dass es kommt und dass ihm die Zukunft gehört, scheint klar. Die Gegenwart, das konnte man sich am Samstag ansehen, gehört ihm noch nicht.

Jedenfalls nicht in der Variante der Web-TV-haften Ausstrahlung, wie sie am Samstag gezeigt wurde. Weltweit und exklusiv hatte Microsofts MSN-Netz sich die Rechte zur Web-Verbreitung der Live-Streams von den Live-Earth-Konzerten gesichert.

Für solch ein Unterfangen braucht es ein finanzkräftiges Unternehmen, denn so etwas ist exorbitant teuer. Millionensummen wandern allein schon für die Vorhaltekosten, letztlich also für die Reservierung der Bandbreiten, über den Tresen. Oben drauf schlagen dann erst die eigentlichen Auslieferungskosten zu Buche. Wie hoch die ausfallen, hängt davon ab, wie stark sich die Abrufe über die "Sendezeit" verteilen: Es ist der sogenannte Peak, die Zahl der meisten zeitgleich ausgestrahlten Streams, der die Kosten definiert. Wie das alles ging, will oder kann MSN bisher nicht sagen.

In einer von den meisten Medien aufgenommenen Pressemitteilung von MSN hatte es geheißen, es habe zehn Millionen abgerufene Live-Streams gegeben, und allein "über 1,4 Millionen Menschen verfolgten online das Konzert in Deutschland". Eine missverständliche Formulierung, die SPIEGEL ONLINE per Nachfrage klärte. Auch hier geht es natürlich nicht um Menschen, also Zuschauer, sondern um die Zahl der Stream-Abrufe. Die erfolgten auch nicht aus Deutschland auf die Live-Earth-Konzerte, sondern aus aller Welt auf Konzertinhalte, die von Hamburg aus gestreamt wurden - im Laufe von 24 Stunden.

Alles andere wäre auch kaum plausibel gewesen. Mit 1,4 Millionen parallelen Stream-Abrufen - also Zuschauern - hätte man die Kapazitäten der Internet-Infrastrukturen in Deutschland austesten können. Laut Echtzeit-Traffic-Monitoring des Unternehmens Akamai gab es am Samstag aber im Webtraffic nur Leistungsspitzen, die knapp 30 Prozent über Normal lagen. Im Klartext: Der Web-Traffic blieb deutlich unter dem Niveau eines normalen Wochentages. Was nichts an der Tatsache ändert, dass Live Earth wahrscheinlich das größte Event war, das bisher live als Videostream über das Web übertragen wurde.

N24 am Samstag: Einmal Größe schnuppern

Im direkten Vergleich zu den Zuschauerzahlen, auf die in Deutschland N24 und ProSieben in den 24 Stunden des Konzert-Marathons kamen, waren es auf jeden Fall Peanuts. N24, sonst ein Mini-Nischensender, der sich von den Krümeln des TV-Werbekuchens ernährt, konnte sich über 60.000 bis 500.000 Zuschauer pro Stunde freuen - und erreichte so gegen 15 Uhr den bisher für den Sender einzigartigen Zuschaueranteil von 4,5 Prozent. Über den Tag verteilt kamen da satte Millionenzahlen zusammen, das Fernsehen punktete gegenüber dem Internet klar als das nach wie vor potentere Medium.

Aber auch im Vergleich zu dem, was sonst im Netz passiert, war Live Earth keine Sensation, sondern nur ein Knaller. Ungewöhnlich war allein die - nicht geklärte - Gesamtzahl von Menschen, die sich zeitparallel ein Event über das Web anschauten. In Relation gesetzt kickte die Live-Earth-Übertragung aber letztlich in der Streaming-Kreisliga: Schon vor einem Jahr lieferte YouTube allein rund 100 Millionen Streams pro Tag aus, allerdings in der preiswerteren Progressive-Download-Technik. Neuere Zahlen existieren nicht.

Hätte die Web-Übertragung bei MSN erfolgreicher sein können? Wahrscheinlich schon. Wer sich die Übertragung am Samstag ansah, dem fiel unwillkürlich auf, dass hier ganz offenkundige Vorteile des Webs nicht genutzt wurden. Ganz davon abgesehen, dass die Übertragung auch technisch nicht reibungslos über die Bühne ging.

Die Web-Event-Kritik: Ruckelnde Übertragung, mangelhaftes Angebot. Live Earth zeigte, wie es aussieht, wenn Web mal TV spielt

Qualität: Rock, nicht ruck

Wer sich auf die Übertragung einließ, wünschte sich Rock, nicht Geruckel. Genau das aber bekamen viele Web-Nutzer bei MSN geboten. Das Nadelöhr, das die ruckfreie Übertragung verhinderte, muss dabei noch nicht einmal bei MSN selbst gelegen haben. Doch irgendwo auf der Strecke zwischen Ausstrahlung (Stream) und User ging einiges verloren: Verpixelte Grafik, stockende Bilder und immer wieder unterbrochene Sound-Spuren waren die Folge, wie unter anderem den Leserbriefen der SPIEGEL-ONLINE-Nutzer zu entnehmen ist. Den Eindruck hatten zeitweilig auch wir.

Mangelnde Selektivität: Vorteile verspielt

In den nächsten Tagen, heißt es in einer Pressemitteilung von MSN, werde sich die Zahl der Konzert-Abrufe noch einmal deutlich erhöhen, wenn "sich jeder sein Lieblingskonzert oder verpasste Auftritte noch einmal bei MSN ansehen kann". Das wird wohl so sein - wenn auch MSN weit weniger davon profitieren dürfte als diverse andere Video-Downloadportale. Dort entstand nämlich bereits im Laufe des Samstag ein Angebot, das man eigentlich bei MSN erwartet hätte: segmentierte Clips der gesamten Konzerte zum Beispiel, nach Gruppen oder speziellen Songs geordnet.

Das bietet auch MSN inzwischen an, wenn auch nicht gerade im Übermaß: Unter "Highlights" präsentiert die Sonderseite  recht gut versteckt einzelne Videos der Auftritte. Bei YouTube und Co bekommt man längst so gut wie alles. Wer bei MSN alles sehen will, muss sich die Konzerte anschauen - und zwar vollständig, von vorn bis hinten.

Die Moral von der Geschicht': Ohne Üben geht es nicht

Ein Vorspulen innerhalb der Aufnahmen ist nicht erlaubt. Das Angebot geht so klar an den Bedürfnissen der Zielgruppe vorbei: Für ein Häppchen Live Earth hat man in der Mittagspause ja mal Zeit. Nur Chefs dürften es sich aber erlauben, drei Stunden Konzert durchdudeln zu lassen, weil sie den Auftritt von The Police am Ende noch einmal sehen wollen. So sieht das aus, wenn Web Fernsehen spielt.

Dabei ist völlig klar, wie man das besser machen könnte. Im Internet erwartet man eine On-demand-Funktionalität, alles andere enttäuscht. MSN hätte die Bedürfnisse seiner Nutzerschaft mit einer sukzessiven, segmentierten "Ausstrahlung" des in Häppchen und Einzelauftritte unterteilten Konzertprogramms wahrscheinlich besser bedient, als mit der - technisch weit anspruchsvolleren und teureren - Live-Übertragung als echter Stream. Das hätte auch den Vorteil, bei der Zählung zu aussagekräftigeren Zahlen zu kommen, statt Daten zu veröffentlichen, die letztlich gar nichts aussagen. Wenn IPTV eine vermarktbare Zukunft haben will, wird man das brauchen.

Bis dahin bleibt nichts anderes, als die uns angebotenen Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Was dabei herauskommt, ist noch nicht einmal bei Rekordzahlen schmeichelhaft, wie das Beispiel Live Earth zeigt. Bricht man die von MSN gemeldeten zehn Millionen kumulierten Stream-Abrufe auch nur auf eine Stundenbasis hinunter, kommt man auf rund 417.000 Zuschauer pro Stunde. Da hatte N24 allein in Deutschland zeitweilig mehr.

Doch die Rechnung operiert natürlich mit Mondzahlen, denn wer sitzt schon 24, acht oder auch nur eine Stunde nonstop vor dem Rechner und schaut sich eine Konzertübertragung an? Natürlich darf man deshalb von weit weniger echten Zuschauern ausgehen (die dafür aber möglicherweise öfter wiederkamen), und von erheblich mehr "Reinschauern" - denn die meisten dürften nur für kurze Zeit hineingeschnuppert haben, was da gerade läuft. Interessant wäre es zu erfahren, wie viele davon dann sofort zu YouTube wechselten, um dort nach den interessantesten Konzert-Häppchen zu suchen - für viele war das schon fast ein Reflex.

Es wird also interessant zu sehen, was dabei herauskommt, wenn die Veranstalter von IPTV und Web-TV ein wenig mehr Übung haben und die Sache Web-gerechter angehen. Für MSN, sagte am Montag ein Firmen-Sprecher zu SPIEGEL ONLINE, sei das Ganze auf jeden Fall eine interessante Erfahrung gewesen: "Das wird nicht die letzte Konzertübertragung bei MSN gewesen sein."

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