Widerstand gegen Islamisten "Muslime, keine Monster"

In arabischen Ländern formiert sich eine Gegenbewegung zum islamischen Fundamentalismus. Journalisten und Blogger rebellieren gegen ihre Regierungen. Manche riskieren dabei ihr Leben.
Von Henryk M. Broder

Der erste "Ehrenmord", über den Rana Husseini schrieb, war der Fall eines 16-jährigen Mädchens, das von einem ihrer Brüder umgebracht wurde, nachdem es von einem anderen Bruder vergewaltigt worden war. "Die Familie gab ihr die Schuld, sie sagten, sie hatte den Bruder 'verführt'." Das war 1994, Rana war erst ein paar Wochen Reporterin bei der "Jordan Times" und wollte eigentlich über "schöne Dinge" schreiben. Kunst, Literatur, Musik und Festivals.

1967 als Tochter von Palästinensern geboren, die ein Jahr zuvor aus Jerusalem nach Amman gezogen waren, hatte sie an der City University of Oklahoma Journalismus und Kunst studiert. Zurück in Jordanien musste sie erstmal lernen, dass "das Leben einer Frau nicht viel wert" war und dass bei Sexualdelikten das Opfer "immer zweimal bestraft" wurde.

"Das fand ich unerträglich." Und so wurde sie Expertin für "Ehrenmorde" und andere Familienverbrechen, über die sie seit 13 Jahren schreibt. "Jedes Jahr passieren etwa 25 Fälle", sagt sie. Und fast immer neigen Polizei und Justiz dazu, "die Ehre der Familie höher zu bewerten als das Leben des Opfers". Die Behörden, sagt Rana, sind "Teil der Gesellschaft". Und weil man in Jordanien die Justiz nicht offen kritisieren und die Richter nicht direkt angreifen darf, versucht sie jedes Mal, den Fall aus der Perspektive der misshandelten Frau oder des missbrauchten Mädchens zu beschreiben.

Jedes Jahr 25 "Ehrenmorde"

Sie besucht die Angehörigen, spricht mit den Tätern, recherchiert die Vorgeschichte. "Die Familien glauben, dass sie mit der Tat einen Schlussstrich ziehen können, in Wirklichkeit fangen sie ein neues Kapitel in einem Drama an." Und nur langsam, ganz langsam, setzt sich die Einsicht durch, dass Familienverbrechen keine Fragen der Ehre sind, die innerhalb und im Zwielicht der Familie geklärt werden können, sondern etwas "womit sich die ganze Gesellschaft beschäftigen muss".

Das klar zu machen, sei ihre Aufgabe. "Deswegen schreibe ich, deswegen stehe ich hier." Rana Husseini steht am Rednerpult und spricht zu den Teilnehmern einer Konferenz, die von der RAND Corporation in Doha, der Hauptstadt des Emirats Qatar am Persischen Golf, veranstaltet wird. RAND ist eine US-amerikanische "nonprofit research organization" mit Sitz in Santa Monica/Kalifornien, ein Thinktank von mehr als 600 Forschern, die sich mit allem beschäftigen, das politisch, sozial und wirtschaftlich relevant ist, von "civil justice" über "population and aging" bis zu "terrorism and homeland security". Und eben mit dem schwierigen Thema Pressefreiheit in arabischen Ländern.

Seit den Anschlägen vom September 2001 suchen die RAND-Leute auch nach Partnern in der arabisch-islamischen Welt, um einer säkularen und demokratischen Gegenbewegung zum islamischen Fundamentalismus auf die Beine zu helfen.

Dass die Konferenz in Doha stattfindet, ist kein Zufall, denn das kleine und extrem wohlhabende Emirat versteht sich als der Schrittmacher des Fortschritts am Golf. Katar, seit 1971 unabhängig, ist keine Bilderbuchdemokratie im westlichen Sinne aber doch viel weiter als seine Nachbarn. Die Verfassung aus dem Jahre 2003 garantiert das Recht auf Meinungs-, Religions- und Versammlungsfreiheit, eine unabhängige Justiz und Gleichheit vor dem Gesetz. Zwar gibt es keine Parteien und kein Parlament, nur eine "Beratende Versammlung" mit 35 Mitgliedern, die vom Emir ernannt werden. Doch seit den Gemeindewahlen von 1999 haben Frauen das aktive und passive Wahlrecht, ein Privileg, von dem ihre Schwestern im benachbarten Saudi-Arabien nicht einmal träumen dürfen.

Etwa 200.000 Katarer koexistieren mit rund 600.000 meist asiatischen Migranten auf der Grundlage eines eisernen Willens zum Wohlstand für alle. Die Untertanen Seiner Hoheit Scheich Hamad Ibn Chalifa al-Thani zahlen keine Steuern und liegen in den globalen Disziplinen Pro-Kopf-Einkommen, Produktivität und Konsum weit vorne.

Katar - hier könnte ein demokratischer Islam wachsen

Die Frau des Emirs zeigt ihr Gesicht unverhüllt und nimmt an jeder Konferenz teil, bei der es um die Verbesserung von Bildung und Erziehung und den Kampf gegen den Analphabetismus geht. "Wenn irgendwo die Voraussetzungen für einen zivilen demokratischen Islam gegeben sind, dann hier", sagt Cheryl Benard, Amerikanerin mit österreichischen Wurzeln, promovierte Politologin und Expertin für arabischen Nationalismus, die sich als Theoretikerin des Feminismus einen Namen gemacht hat ("Ohne uns seid ihr nichts. Was Frauen für Männer bedeuten"), bevor sie bei RAND anheuerte.

Im Al-Maha-Raum des Sheraton Doha bleiben die Repräsentanten des zivilen demokratischen Islam unter sich. Zwei Dutzend Frauen und Männer, die wie Rana Husseini die Lebensbedingungen in ihren Ländern durch Aufklärung der Bevölkerung, Kritik an der Regierung und Kommunikation untereinander verbessern wollen.

Fatema Laya Bayat, 1969 in Kabul geboren, war neun Jahre alt, als sie mit ihren Eltern Afghanistan in Richtung USA verließ. Sie wuchs in New Jersey auf, machte ihren Master in Sonderpädagogik und heiratete Ehsan, einen Unternehmer, der wie sie ein Kind afghanischer Emigranten war. Gleich nach dem Sturz der Taliban beschlossen Fatema und Ehsan, "Afghanistan wieder mit der Welt zu verbinden".

Es gab damals 25.000 Telefonanschlüsse in einem Land mit 27 Millionen Einwohnern. Eine Lizenz für Mobilfunk war billig zu haben, mit dem Geld von Investoren, meist Exil-Afghanen, baute Ehsan eine flächendeckende Infrastruktur auf. "Wir rechneten mit ein paar Tausend Kunden, heute sind es über eine Million."

Weiter zu Teil zwei: "Ihr müsst keine Angst haben vor uns"

Es werden nur Telefone und Prepaid-Karten verkauft, denn Rechnungen zu verschicken wäre angesichts der Lage im Land wenig Erfolg versprechend. Mit dem Gewinn aus dem Telefongeschäft finanzieren sie eine Radio- und Fernsehstation in Kabul, die seit zwei Jahren in drei Landessprachen für Afghanistan und via Satellit in 80 Länder sendet. So verbinden sie praktischen Patriotismus mit gesundem Unternehmertum, schaffen Arbeitsplätze und tragen zum Aufbau des Landes bei. "Das afghanische Volk hat lange genug gelitten", sagt Fatema, die ein Kopftuch trägt, seit sie vor kurzem in Mekka war, "um Gott für die Befreiung von den Taliban zu danken".

Weil aber Gott nicht überall sein und sich um alles kümmern kann, hat sie unter Exil-Afghanern in den USA eine halbe Million Dollar gesammelt, die in ein Nachbarschaftsprogramm gesteckt werden sollen. "Damit können wir 500 Mülleinsammler und Straßenkehrer ein Jahr lang bezahlen."

Zwischen Fatema Laya Bayat und Rana Husseini sitzt Mahmud al-Jussif, Geschäftsmann und Blogger aus Bahrein.  Tagsüber verkauft er in seiner Firma High-Tech-Geräte, nachts hockt er an seinem Computer und legt sich mit der Regierung des kleinen Inselreichs im Persischen Golf an. Vor kurzem musste er 500 Bahrein-Dollar Kaution hinterlegen, um nicht verhaftet zu werden, nachdem er in seinem Blog "Mahmood’s Den"  den neuen bahrainischen Minister für Landwirtschaft und kommunale Angelegenheiten wegen Unfähigkeit angegriffen hatte. "Man sollte immer loyal zu seinem Land sein, aber zu der Regierung nur dann, wenn sie es verdient." Mahmud, 1962 geboren, hat zuerst eine katholische, dann eine protestantische Schule in Bahrain besucht, danach "Aviation Electronics" in Schottland studiert und in Forth Worth/Dallas als Pilot gearbeitet. Schon 1986 fing er an, Nachrichten und Kommentare im Bulletin Board System, dem Vorläufer des Internet, zu posten.

2003 "ging es richtig los", heute hat er über 1,8 Millionen Seitenabrufe pro Monat und zählt zu den bekanntesten Bloggern in der arabischen Welt. Da er auf Englisch schreibt, wird er auch jenseits der eigenen Hemisphäre viel gelesen. "Das Internet demokratisiert die Welt. Es ist die größte Gefahr für autoritäre und ignorante Regimes. Und wir wollen an dieser Entwicklung teilnehmen. Ihr müsst keine Angst vor uns haben. Wir sind Araber. Wir sind Muslime, keine Monster", sagt er.

Mahmud spricht vom "organisierten Chaos" in der arabischen Welt, deren Herrscher nicht begreifen wollen, dass "der Geist aus der Flasche raus" ist und nicht wieder eingefangen werden kann, dass Information und Wissen die Schlüssel zur Macht sind.

"Ich bin der Sprecher einer schweigenden Mehrheit"

Vor kurzem ist er der Frage nachgegangen, warum fast die Hälfte Bahrains Territoriums für die Einwohner verbotenes Terrain ist. "Die Regierung hatte den Südteil zum militärischen Sperrgebiet erklärt." Mit Hilfe von Google Earth fand er dann heraus, dass es sich bei den angeblich militärischen Objekten, die nicht besichtigt werden dürfen, um Paläste der Königsfamilie handelt, deren Angehörige in Ruhe ihren Hobbys nachgehen möchten. Mahmud behielt die Entdeckung nicht für sich.

Mit solchen Aktionen baut er eine Fan-Gemeinde hinter sich auf, die von Tag zu Tag größer wird. "Ich bin der Sprecher einer schweigenden Mehrheit, die es langsam lernt, sich zu artikulieren." Für weltliche Moslems wie Mahmud ist "persönliche Freiheit" der wichtigste aller Werte. Glaube und Religion sind Dinge, "die jeder persönlich mit Gott ausmachen muss, ohne Makler, die ihm sagen, was er tun sollte".

Mahmuds Moschee ist das World Wide Web, eine Erfindung, "die uns helfen wird, Dinge wieder zu finden, die wir verloren haben" - die Freiheit, die Würde und die Hoffnung auf ein besseres Leben im Diesseits.

"Ihr habt keine Ahnung, unter welchen Bedingungen wir leben"

Lauter Begriffe, die Buschra Dschamil schon lange aus ihrem Vokabular verbannt hatte. Die Tochter eines Polizeibeamten und Freizeitschauspielers, 1955 geboren, unterrichtete Biologie an einer Oberschule in Bagdad. Die Machtergreifung durch Saddam Hussein 1979 veränderte auch ihr Leben. "Man hat uns gezwungen, den Kindern Lügen zu erzählen." Zehn Jahre lang passte sie sich an, dann beschlossen Buschra und ihr Mann Chalil, den Irak zu verlassen. "Es war die einzige Möglichkeit, unsere Würde zu retten." Als Reiseziel gaben sie Libyen an; 1994, nach einem Jahr in Khartum, der Hauptstadt des Sudan, bekamen sie die Einwanderungspapiere für Kanada. Im Mai 2003 hielt es Buschra dort nicht mehr aus. Sie entstaubte ihren irakischen Pass und machte sich auf den Weg nach Bagdad. Ihr Mann und die beiden inzwischen erwachsenen Kinder blieben in Kanada.

Sie landete im Chaos, wurde beim IRDC - Iraq Reconstruction and Development Council - Projekt-Manager, bis sie von UNIFEM, einem Uno-Fond für Frauenprojekte, das Startkapital für einen Radio-Sender bekam. Am 1. April 2005 ging "al Mahabba" (Liebe) auf Sendung, im Oktober wurde die Station durch eine Bombe still gelegt und nahm nach einem halben Jahr den Betrieb wieder auf. Heute beschäftigt al Mahabba 15 Mitarbeiter, die froh sind, für ein Taschengeld arbeiten zu können, sendet jeden Tag acht Stunden und richtet sich "vor allem, aber nicht nur an Frauen", denn Frauen, sagt Buschra, "tragen die Last des Alltags auf ihren Schultern".

Sie gehen einkaufen, obwohl jeder Gang zum Marktplatz lebens-gefährlich ist, sie besorgen Medikamente auf dem Schwarzmarkt und sie holen die Toten in den Leichenhäusern ab. "Der Tod ist Teil ihres Lebens geworden, sie denken nicht darüber nach, sie arrangieren sich." Es gibt kein soziales Leben mehr in Bagdad, ein Anruf beim Radio, eine Unterhaltung mit dem Moderator einer Sendung, ist oft die einzige intakte Verbindung zur Außenwelt. "Ihr habt keine Ahnung, unter welchen Bedingungen wir leben und arbeiten." Besonders grausam ist die Situation der Witwen und Waisen. Deswegen werden immer mehr "Ehen auf Zeit" geschlossen, "von einer Stunde aufwärts, so lange der Mann es will". Die Zeit-Ehen sind ein Ersatz für Prostitution. "Für viele arme Frauen ist es die einzige Möglichkeit, sich und ihre Kinder zu ernähren." Um die Hoffnung auf bessere Zeiten nicht zu verlieren, führt Buschra immer ein Foto ihrer Mutter Asisa mit sich, das 1948 aufgenommen wurde: eine junge Frau mit Sonnenbrille, die selbstbewusst posiert. Das Foto ist alt und vergilbt, aber es zeigt, "dass es einmal ein normales Leben bei uns gab, und so soll es wieder werden".

Buschra flog nach der Konferenz von Doha über Amman nach Bagdad zurück. Es hat ihr gut getan, eben noch Unbekannte zu treffen, die unter ähnlichen Bedingungen arbeiten – an Orten, wo die Freiheit kein Geschenk ist, das einem frei Haus geliefert wird.

Sobald sie in Bagdad gelandet war, schaltete sie als erstes ihr Transistor-Radio ein, "um zu sehen, ob Radio al Mahabba noch immer sendet".

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