Wiki-Selbstzensur Der Schweigepakt

Sieben lange Monate schafften es die Lenker der "New York Times", Nachrichten über die Entführung eines ihrer Reporter durch die Taliban geheim zu halten - mit Hilfe kollegialer Selbstzensur. Bei der wirkte auch die Wikipedia mit - gegen das Bemühen ihrer Nutzer.
David Rohde: Sieben Monate in Gefangenschaft, ohne dass dies öffentlich bekannt wurde

David Rohde: Sieben Monate in Gefangenschaft, ohne dass dies öffentlich bekannt wurde

Foto: CHARLES KRUPA/ AP

Es gibt Wikipedianer, für die stehen die Grundsätze der Gleichheit und der Transparenz über allem: Jeder hat bei der Wikipedia das Recht, Artikel zu veröffentlichen und zu verändern. Eine lenkende Redaktion findet dabei ebensowenig statt wie eine Zensur. Fehler, Lügen und Manipulationen, so die Theorie der Wikis, bereinigt die Community selbst - wenn es sein muss nach intensiver Diskussion der Fakten.

Genau die wollten die Macher der "New York Times" weder verbreitet noch diskutiert sehen, als im November 2008 David Rohde, einer ihrer Reporter, in Afghanistan von den Taliban gekidnappt wurde.

Rohde war zusammen mit seinem Übersetzer sowie einem Fahrer verschleppt worden. Schnell kamen Sicherheitsbehörden und Rohdes Arbeitgeber überein, dass es die Überlebenschancen der Entführten erhöhen könnte, wenn die Entführung nicht weiter publik würde: Auf keinen Fall sollte Rohde als Prominenter mit erhöhtem Marktwert erscheinen - tot oder lebendig.

Was dann folgte, schilderte am Wochenende "Times"-Autor Richard Pérez-Pena in einem ausführlichen Artikel , der nun erscheinen konnte, weil Rohde und sein Kollege wieder frei sind: Am Samstag vor einer Woche gelang ihnen die Flucht. Der Fahrer soll sich während der Geiselhaft freiwillig den Taliban angeschlossen haben.

Es ist möglich, dass Rohde noch lebt, weil niemand seine Entführung an die große Glocke hängte. Die "Times" hatte das schnell und still erledigt: Gezielte Anrufe in rund 35 Schlüsselredaktionen sorgten für eine kollegiale Selbstzensur, die das Leben der Entführten schützen sollte. Währenddessen bearbeitete ein Kollege von Rohde - immerhin zweifacher Pulitzer-Preisträger - dessen Wikipedia-Einträge: Er schönte sie, indem er Referenzen darauf entfernte, dass Rohde einmal für den "Christian Science Monitor" gearbeitet hatte; er hob Rohdes Arbeit hervor, die als Islam-freundlich gedeutet werden konnte.

Natürlich konnte das nicht verhindern, dass die Wikipedia-Community Wind davon bekam. Schnell erschien ein Eintrag darüber, dass Rohde von Taliban entführt worden sei. Rohdes Kollegen strichen den Eintrag - und riefen um Hilfe.

Denn in Wahrheit gibt es auch im Reich der Wikipedianer einige, die ein wenig gleicher sind als andere: Sie können Artikel "einfrieren", die weitere Bearbeitung zeitweilig unterbinden. Wikipedia-Gründer Jimmy Wales selbst griff ein und mit ihm einige der ehrenamtlichen Administratoren: Ein rundes Dutzend mal veränderte sich Rohdes Eintrag in den nächsten Monaten, während ein anonymer Wiki-Autor die Zensurversuche mit hitzigen Kommentaren würdigte. Als Rohde endlich frei war, feierte er die Durchsetzung seiner Ergänzung über die Entführung mit einem "Ich hatte recht, und Ihr wart im Unrecht!".

Präzedenzfall Rohdes: (Un-)verantwortliches handeln?

Das kann man als kleinkarierten Triumph lesen, oder als grundsätzlichen und berechtigten Kommentar: US-Presse wie Blogosphäre sind sich da durchaus nicht einig. Denn das Einhalten der selbstauferlegten Nachrichtensperre wird zum einen als reife Leistung von Wales und der Wikipedia-Community gesehen, zum anderen aber auch als Bruch mit allem, wofür die Wikipedia eigentlich steht. Zuweilen hämisch wird das der Wiki-Community nun ausgerechnet von der ultrakonservativen US-Presse unter die Nase gerieben. Das jedoch ist kaum nötig: Die Community ist sich absolut im Klaren, dass hier etwas Außergewöhnliches geschehen ist, das vieles in Frage stellt.

Der Vorgang, kommentiert der Blogger Stan Schroeder  bei Mashable.com, zeige ein Grundproblem der Wiki-Kultur: "Wie hält man etwas geheim?" Denn das ist in der Welt der Wikis absolut nicht vorgesehen.

Medien können das dagegen durchaus. Viele Journalisten wissen weit mehr als sie mitteilen. Selbst Boulevardmedien ist es nicht fremd, beispielsweise das Elend eines prominenten Totkranken schlicht zu verschweigen, bis Zufall oder Tod das Thema öffentlich machen. Redaktionen mögen vorgefasste Nachrufe oder saftig bebilderte Hintergrundinfos über gleichgeschlechtliche Beziehungen Prominenter in den Schubladen haben, um sie beizeiten zu präsentieren. Doch oft genug gibt es für sie Gründe, mit solchen Informationen nicht vorzupreschen: Um populären Menschen nicht willkürlich zu schaden, um Menschen nicht in Gefahr zu bringen.

Das funktioniert - wenn auch nicht immer - gerade weil Medien "Gatekeeper", also Torwächter sind: Sie entscheiden bewusst darüber, was aus der unmäßigen Flut der Informationen publik werden soll. In der Routine des Alltags ist das ein qualitativer Auswahlprozess aus viel zu großer Quantität: Veröffentlicht wird das vermeintlich beste, interessanteste, relevanteste, amüsanteste, was der Nachrichten- und Themenstrom herzugeben hat.

Im Ernstfall aber ist es ein Akt der Verantwortung, der bei ganz kleinen Entscheidungen beginnt: In ethnisch aufgeheizter sozialer Stimmung verzichtet man darauf, auf die Ethnie von Gewalttätern zu verweisen; man quält keine trauenden Eltern getöteter Kinder, indem man auch noch die letzten grausamen Details der Taten öffentlich macht; man zeigt Entführern nicht, ob eine Geisel wertvoll ist, wenn man damit deren Leben gefährdet. Wie gesagt: Medien können so etwas, wenn sie wollen. Mitunter können sie ethisch handeln.

Heißt Idealismus, keine Rücksichten zu nehmen?

Wikipedia, das nicht kommerziell, sondern ideell getriebene Volkslexikon im Web, fällt das weit schwerer - und das ist auch für die Wiki-Community eine neue Erfahrung, die für mächtig Zündstoff sorgt. Pragmatiker liefern sich in den Diskussionsforen hitzige Wortgefechte mit den Verfechtern der reinen Wiki-Lehre.

"Kompromitiert" sei die Wikipedia durch diesen Akt der Zensur, heißt es da unter anderem: "Was hier geschehen ist, ist aberwitzig. Das Leben eines Menschen rechtfertigt nicht die Zensierung von Informationen der Wikipedia. Wie sehen denn gute Gründe für so eine Zensur aus? So wie die, für die sich Jimmy Wales entscheidet?" Ein anderer schreibt: "Ich bin empört, dass die Wikipedia ihre Prinzipien verletzt, um die Publizierung der Wahrheit zu verhindern. Das wird der Anfang vom Ende sein."

Andere sehen das moderater: "Alle von euch, die sich darüber empören, dass die Tatsache seiner Entführung verschwiegen wurde, sollten sich ausloggen, zurücklehnen und darüber nachdenken, wofür ihr hier eintretet. Eure Versuche, diese Geschichte zu verbreiten, hätten womöglich sein Leben gefährdet. Wenn er gestorben wäre und eure Beiträge dafür der Grund gewesen wären, hätten ihr dann die gleiche moralische Empörung gespürt, die ihr jetzt für euch reklamiert? Ihr solltet euch schämen."

Die Diskussion hat damit erst begonnen, denn eine Regel lässt sich aus dem Fall Rohdes nicht ableiten: Redaktionen diskutieren über solche Dinge, seit es Redaktionen gibt. Dort aber fällt am Ende eine Entscheidung, die im Idealfall nicht nach draußen dringt. Wann und wie man etwas geheim hält, hat die Wiki-Community noch nicht gelernt - und leidet am Präzedenzfall.

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