Wikipedia-Kongress Gutmenschen unter sich

Auf dem Wikimania-Kongress in Frankfurt versammelte sich ein buntes Völkchen von Wikipedianern - mehrheitlich zwischen 20 und 30 Jahre alt und männlich. Diskutiert wurde unter anderem, ob die Online-Enzyklopädie eines Tages fertiggestellt sein könnte.
Von Helmut Merschmann

Für Wikipedia, das freie, von Tausenden Freiwilligen geschriebene Internet-Lexikon, brechen neue Zeiten an. Das glaubt zumindest der Wikipedia-Gründer Jimmy Wales, von der Community "Jimbo" genannt. Für den ehemaligen Optionsscheinhändler ist in der englischsprachigen Wikipedia mit über einer halben Million Einträgen das Ende der Fahnenstange bald erreicht. Irgendwann sind eben alle lexikalischen Begriffe erfasst und in Wikipedia dargestellt. Schon heute stehen Neulinge vor dem Problem, sich und ihr Wissen einzubringen. Die meisten Einträge existieren bereits. Punkten kann man nur noch mit außergewöhnlichem Fachwissen.

Ist das Projekt Wikipedia tatsächlich bald abgeschlossen? Die meisten Teilnehmer am Wikimania-Kongress , der von Freitag bis Sonntag in Frankfurt stattfand, waren da anderer Meinung als ihr Guru Wales. Für Kurt Jansson, Vorsitzender des deutschen Wikimedia-Vereins, ist ein Ende der Enzyklopädie noch lange nicht in Sicht. Er skizziert einen "Zeithorizont von Jahrzehnten", bevor das Projekt sein ehrgeiziges Ziel, ein umfassendes, qualitativ hochwertiges Lexikon zu sein, erreicht habe.

Überhaupt war Qualität ein großes Thema für die versammelten Wikipedianer. Seit den Anfängen der Online-Enzyklopädie ist die Kritik an der Zuverlässigkeit und Brauchbarkeit der Artikel nie abgerissen.

Vor wenigen Tagen erst hatte das Internetportal Bildungsklick.de , das einen Presseservice für Schulbuchverlage betreibt, mit einer übermütigen Hochrechnung auf sich aufmerksam gemacht: In zwölf Wikipedia-Artikeln wurden durchschnittlich vier Rechtschreibfehler gefunden - das macht bei 250.000 Einträgen insgesamt eine Million Fehler . Oder? "Ein fehlendes Leerzeichen zwischen "z. B." wurde dabei mitgezählt", beschwert sich Kurt Jansson. "Dennoch ist die Qualität mancher Artikel verbesserungswürdig, und wir diskutieren das und arbeiten daran."

"Zu viele Köche", weiß Andreas Brändle, "verderben aber nicht den Brei." Nach den Untersuchungen des Schweizer Publizistikstudenten resultiert die Qualität in Wikipedia-Artikeln aus dem Zusammenspiel von Interesse und Relevanz: Je mehr Relevanz ein Thema hat, desto mehr Leute beteiligen sich an seiner Aufbereitung. "Und ein großes auch quantitatives Interesse, hat wiederum großen Einfluss auf die Qualitätstiefe", so Brändle.

Ferner lasse sich Qualität auch an der Häufigkeit der Überarbeitung eines Artikels, an seiner Entstehungsdauer und den Verlinkungen zu früheren Versionen bemessen. Selbst Vandalismus hat laut Brändle seine guten Seiten: Kontovers diskutierte Einträge gelangen auf eine Beobachtungsliste und werden von den Mitgliedern besonders argwöhnisch verfolgt.

"Datura", ein blasshäutiger Wikipedia-Aktivist aus Leipzig, hat dafür eigens ein Netzwerk-Überwachungssystem entwickelt. Damit können Softwareentwickler, die sich in einem IRC-Channel aufhalten, alle Änderungen, die an einzelnen Einträgen vorgenommen werden, in Echtzeit verfolgen.

Der Clou: Die Änderungen ertönen als Vogelstimmen. "Es zwitschert dauernd", sagt Datura, "und man kann anhand der Geräusche die Qualität der Eingaben erkennen". Einzelne missliebige Nutzer, Vandalen genannt, die für ihre wenig konstruktive Mitarbeit bekannt sind, fallen umgehend durch besonders laute Töne im Vogelstimmenkonzert auf.

Jean-Baptiste Soufron, Vorsitzender der französischen Wikimedia, hält die "utilitaristische" Qualitätsdiskussion hingegen für ganz und gar fehlgeleitet: "Wikipedia bildet nicht vorrangig Wissen ab, sondern die Dynamik des Wissens."

Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt auch Christian Schlieker in seiner an der Universität Bremen entstandenen Diplomarbeit , in der er am Beispiel der hitzigen Entstehungsgeschichte des Eintrags über Erich Honecker eine drei Jahre währende Diskussion rekapituliert und die Mechanismen der Qualitätskontrolle darstellt.

Eine Diplomarbeit wert wäre auch die Frage, was einen typischen Wikipedianer charakterisiert (sofern es ihn überhaupt gibt). In Frankfurt hatte man jedenfalls den Eindruck, dass es vor allem junge Männer im Alter von 20 bis 30 Jahren sind, die sich als altruistische Gutmenschen an der freien Enzyklopädie beteiligen. Auf ihren T-Shirts, unter denen sich erste Speckröllchen abzeichnen, sind Aussagen wie "Alt F4", "Some Rights Reserved" oder "What the hack?" zu lesen - die Insignien eines echten Wikimaniacs.

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