Wikipedia-Sperrung Die Fallstricke des Online-Lexikons

Lutz Heilmann hat nichts erreicht. Der Abgeordnete ließ die deutsche Wikipedia-Einstiegsseite kurzfristig sperren, weil er mit dem Eintrag über seine Person nicht einverstanden war. Nun gab Heilmann klein bei - doch sein Fall zeigt einmal mehr grundsätzliche Probleme des Prinzips Wikipedia auf.

Es war kein gutes Wochenende für Lutz Heilmann. Dabei hatte er doch eigentlich einen Sieg davongetragen: Seit Jahren, seit Heilmann nämlich 2005 für die Linkspartei in den Bundestag einzog, wird an seinem Wikipedia-Eintrag herumgedoktert - nun ließ er die deutsche Einstiegsseite sperren, wenn auch nur für ein paar Tage. Details aus seinem Privatleben waren im Lauf der Jahre dort aufgetaucht und wieder verschwunden, Verweise auf seine Vergangenheit als Personenschützer im Dienste der DDR-Staatssicherheit, später auch Vorwürfe im Zusammenhang mit internen Querelen der Lübecker Linkspartei.

Stellenweise zeigt die - wie bei jedem Wikipedia-Eintrag dauerhaft abrufbare - Bearbeitungsgeschichte des Artikels, dass auch auf ziemlich üble Weise gepöbelt wurde gegen den Abgeordneten aus Lübeck. Persönliche Angriffe verschwinden aber üblicherweise schnell wieder aus Einträgen in der Online-Enzyklopädie, und so war es auch in diesem Fall. Das Lexikon setzt auf Selbstreinigung. Schließlich habe er dennoch "keine andere Möglichkeit gesehen, meine Rechte zu wahren", als juristische Schritte einzuleiten, sagte Heilmann SPIEGEL ONLINE.

Er erwirkte eine einstweilige Verfügung, um die Weiterleitung von wikipedia.de auf de.wikipedia.org zu unterbinden. Dort lagern die Einträge des Internet-Lexikons tatsächlich, auf Servern in den USA, für deutsche Anwälte schwer erreichbar. Echte Auswirkungen hatte die einstweilige Verfügung deshalb nicht: Alle Inhalte, auch die deutschsprachigen, waren über die in den USA beheimatete Hauptseite weiterhin zu erreichen.

Die ganze Bibliothek wegen eines Buches zugesperrt

Inzwischen weiß Heilmann, dass er einen Fehler gemacht hat. Die Sperrung von Wikipedia.de sorgte für einen Sturm der Entrüstung, selbst seine eigene Partei distanziert sich nun von seinem Vorgehen. Das Online-Lexikon ist eine der meistbesuchten Seiten im deutschsprachigen Internet - es war, als habe Heilmann eine Nationalbibliothek zusperren lassen, nur weil ihm ein Buch darin nicht passte.

Er habe unterschätzt, "welches Ausmaß dieser Schritt annimmt", sagt er jetzt. Es sei ihm aber zu keinem Zeitpunkt darum gegangen, "die Meinungsfreiheit einzuschränken". Er habe sich lediglich "gegen falsche Tatsachenbehauptungen wehren" wollen. Er zog den Antrag zurück, wikipedia.de funktioniert wieder wie gehabt. Und auch der Eintrag über Lutz Heilmann ist abrufbar, ob über .de oder .org.

Die beanstandeten Passagen stehen nicht mehr darin - jedenfalls nicht in der Version vom Montagnachmittag. Das hätte der Abgeordnete womöglich auch einfacher haben können, heißt es doch in den Wikipedia-Richtlinien: "Die Betroffenen sind eingeladen, Fehler zu verbessern und ungenaues oder unbelegtes Material zu entfernen." Das hätte Heilmann selbst tun können. Er kenne sich aber mit solchen Dingen nicht aus und habe es deshalb gar nicht erst versucht, sagte er SPIEGEL ONLINE. Auch Mitarbeiter seines Büros hätten den Eintrag zu seiner Person nicht bearbeitet.

"Tiefer Riss" im Landesverband der Linken

Mindestens einmal wurde der Eintrag über Heilmann aber von einem Rechner aus dem Netzwerk des Deutschen Bundestages aus verändert. Gestrichen wurde damals, Ende 2006, eine längere Passage über Heilmanns Stasi-Akten und den Wunsch seiner eigenen Parteifreunde in Lübeck, in diese Akten Einsicht zu nehmen. Der letzte Absatz der betreffenden Passage lautete: "Zu seinen schärfsten Kritikern innerhalb der Partei gehören offiziell der Vorsitzende der Linkspartei Lübeck Ragnar Lüttke und der Landesvorsitzende der Linkspartei Schleswig-Holstein, Heinz-Werner Jezewski."

Dies ist nicht der einzige Hinweis, dass in der Online-Enzyklopädie womöglich auch ein innerparteilicher Streit ausgetragen wurde. Die "Lübecker Nachrichten" berichteten im September 2008, es gehe "ein tiefer Riss"  durch den Landesverband der Linken.

Der Streit um den Wikipedia-Eintrag hat Heilmann nun jedenfalls mehr gekostet als er ihm gebracht hat. Die Passagen, die er verschwinden lassen wollte, wurden noch einmal breit diskutiert, sei es die über seine Stasi-Vergangenheit oder die über den Online-Sexshop seines Ex-Freundes.

Klug war Heilmanns Vorgehen nicht - grundsätzlich zeigt der Fall aber einmal mehr ein bekanntes Problem des Systems Wikipedia auf: Es ist zunächst sehr einfach, dort Dinge zu veröffentlichen, ob wahr oder falsch. Und selbst, wenn sie einmal gelöscht worden sind, bleiben sie auf ewig in den Bearbeitungsarchiven des Netzlexikons sichtbar. Die Nutzungsregeln des Lexikons schließen Verunglimpfungen, unverifizierte Behauptungen, Beleidigungen und Irrelevantes aus, und langfristig gelingen so meist auch ziemlich ausgewogene Beiträge. Doch auch alle verschwundenen Passagen über Heilmann, ob falsch oder richtig, ob relevant oder irrelevant, sind weiterhin abrufbar - man muss sich nur durch die Bearbeitungshistorie des Artikels klicken. Was allerdings ziemlich mühsam ist.

Mehr Anonymität mit einem Spitznamen

Fände man dort etwas tatsächlich strafrechtlich Relevantes, eine Beleidigung oder Verleumdung etwa, dann wäre der juristische Weg kompliziert.

Wikipedia-Beiträge bearbeiten darf jeder - auch anonym. Paradoxerweise bietet eine Registrierung, ein Nutzerprofil mit einem Decknamen, sogar noch mehr Anonymität: Wer ohne Anmeldung editiert, hinterlässt automatisch eine IP-Adresse. Die kann, mit Hilfe einer richterlichen Anordnung und den Datenbeständen des entsprechenden Internet-Providers, unter Umständen einem Nutzer zugeordnet werden. Agiert der Nutzer jedoch mit einem offiziellen Wikipedia-Spitznamen, ist es deutlich schwieriger, seiner habhaft zu werden. Dann nämlich erscheint neben den von ihm durchgeführten Änderungen keine IP-Adresse, sondern eben der selbstgewählte Netz-Name.

Um den einer Person zuzuordnen, "müsste man bei der Wikimedia-Foundation in den USA einen Antrag stellen" erklärt Kurt Jansson, erster Vorsitzender des Wikimedia Deutschland e.V. Einen solchen Antrag "gerichtswirksam zuzustellen", erfordere einen "komplexen Weg". Viele Wikipedia-Autoren, auch er selbst, agierten zwar im Lexikon unter ihren Klarnamen, erklärt Jansson, der auch für SPIEGEL WISSEN arbeitet. Doch verpflichtend sei das nicht.

Angst vor der "kleinen Lawine"

Lutz Heilmann hat gegen mehrere Bearbeiter seines Wikipedia-Eintrages Strafanzeige gestellt, sagte er SPIEGEL ONLINE. Doch ein besonders fleißiger Bearbeiter agierte unter einem Wikipedia-Pseudonym - es bleibt abzuwarten, ob seine Identität aufgeklärt werden kann oder nicht.

Immerhin: Zumindest theoretisch wäre dieses Vorgehen erfolgversprechender als die Sperrung von Wikipedia.de, wenigstens dann, wenn man einem Wikipedia-Autoren tatsächlich strafrechtlich relevante Behauptungen nachweisen könnte. Die deutsche Einstiegsseite sperren zu lassen bringt rein gar nichts, denn das US-Angebot bleibt davon völlig unberührt.

Bei Wikimedia Deutschland macht man sich dennoch Sorgen, dass Heilmanns erfolgloses Vorgehen Nachahmer inspirieren könnte, die ebenfalls juristisch gegen die deutsche Seite vorgehen könnten: "Es wäre unschön", sagt Kurt Jansson, "wenn das eine kleine Lawine auslösen würde."

Mitarbeit: Björn Hengst

Wikipedia-Inhalte finden sich auch auf der größten kostenlosen Recherche-Datenbank im deutschsprachigen Internet, SPIEGEL WISSEN.

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