Zukunft des Radios IP-Radios locken Hörer von Stammsendern weg
Wenn Wolfgang Seufert, Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Jena, schnell etwas darüber erfahren möchte, wie junge Leute Medien nutzen, fragt er seine Studenten im Hörsaal. Wer von ihnen regelmäßig Radio höre, wollte er von den Teilnehmern einer Vorlesung wissen. Viele ließen ihre Arme unten, meldeten sich nicht. "Etwa 20 Prozent meiner Studenten besitzen überhaupt kein Radio mehr", fasst Seufert das Ergebnis seiner Spontanumfrage zusammen.
Dieser Wert ist nicht repräsentativ, aber doch ein Indiz, dass das UKW-Radio 60 Jahre, nachdem es den Sendebetrieb aufgenommen hat, in Deutschlands Wohnstuben auf dem Rückzug ist. "Meine Studenten sagen, ihre Musik sei in dem Angebot nicht dabei", gibt Seufert wieder, wie die Enthaltsamen aus Jena ihre Radio-Abstinenz begründen. Das Zuhören haben sie allerdings nicht verlernt, holen sich Podcasts, Downloads oder Livestreams aus dem Internet.
Dort funken auch die vom UKW-Empfänger bekannten Wellen fleißig mit. Alle bundes- oder landesweiten Programme - egal ob öffentlich-rechtlich oder privat - sind präsent. Mit Eins-zu-Eins-Übernahmen der herkömmlichen Wellen und vielen Zusatzstreams wie "WDR 1Live Kunst", "FFH Digital My Fun-Radio" oder "Antenne Bayern Hits For Kids" wird gegen die Konkurrenz reiner Internet-Programme angesendet.
IP-Radios verändern die Hörfunknutzung
Doch für Hörer im Netz scheint die Verlockung, dem einstigen Stammsender untreu zu werden, groß - wie eine Studie der WDR-Medienforschung zeigt. Besonders dann, wenn die Nutzer zum Stöbern in den Webstreams ein IP-Radio verwenden. Denn damit müssen sie zum Web-Radio-Hören nicht mehr vor dem PC sitzen, ein Internet-Zugang per W-Lan genügt.
Solche IP-Geräte bekamen 100 Teilnehmer aus Nordrhein-Westfalen für die WDR-Studie gestellt und gewöhnten sich schnell an die neue Programmvielfalt - schneller, als es wohl manchem Radiomacher lieb ist. Am Beginn der Studie gaben noch 82 Prozent an, eines der in NRW heimischen WDR- oder privaten Lokalfunkprogramme am häufigsten zu hören. Nach der ersten Studienphase schmolz dieser Anteil auf 41 Prozent. Reine Internet-Sender profitierten: Statt drei Prozent am Beginn nannten nun 30 Prozent der IP-Radio-Tester diese als am häufigsten gehörte Programme.
Eine Hörerwanderung, die nicht allein mit dem vergrößerten Angebot im Netz zu erklären ist, sondern stark auch mit den IP-Empfängern, die anders als ein PC irgendwie wie ein Radio aussehen und auch ähnlich funktionieren. Bei einer Kontrollgruppe, in der Teilnehmer zum verstärkten Radiohören am PC aufgefordert wurden, ließen sich die Befunde der IP-Gruppe nicht bestätigen. Internet-Sender legten deutlich schwächer zu, aber auch die WDR-Sender wurden im Verlauf häufiger als am meisten gehörte Programme genannt. IP-Radios aber haben offenbar befreiende Wirkung - für hiesige Sender eine bedrohliche Perspektive, denn die Geräte werden immer billiger. Noch im Verlauf dieses Jahres ist zu erwarten, dass sie es bis in den Sonderangebotsverkauf beim Elektro-Discounter an der Ecke schaffen werden: Dann könnte aus dem noch unwichtigen Nischen- schnell ein Massenmarkt werden.
Deshalb sind möglicherweise bevorstehende Veränderungen beim Verhalten der Hörer nicht zu unterschätzen. "Die etablierten Radiosender bekommen Tausende neuer Konkurrenten, die zum Teil gezielt ausprobiert werden und dann bei Gefallen schnell als Favorit Eingang in das Relevant Set bekommen", heißt es in einem in den "Media Perspektiven" erschienenen Bericht zur Studie. Soll heißen: Wer einmal das Angebot nach Musikgenre, Herkunftsland oder ähnlichem durchforstet und einen Stream findet, der gefällt, nimmt diesen in die Liste seiner Stammprogramme auf.
Urlaubssender zu Hause hören
Die etablierten Sender haben dann einen Hörer weniger - zumindest aber einen, der seltener einschaltet. "Selbst wenn das ursprüngliche UKW-Lieblingsprogramm irgendwann wieder das meistgehörte wird, so dürfte die Nutzungsfrequenz dennoch voraussichtlich sinken, weil der Urlaubssender oder der Spartenkanal jetzt auch bequem gelegentlich gehört werden können", wird in dem Bericht eingeräumt.
Die Studie der WDR-Forscher - ein Vorgeschmack dafür, was Hörfunksendern blühen kann, wenn bald mehr Bürger IP-Radios kaufen? Schon jetzt schwinden ihnen die Hörer, obwohl das kaum ein Radiomacher zugeben will. Allzu leicht lässt sich dieser Befund durch Statistiken kaschieren. 176 Minuten hört der Durchschnittsbürger laut den ARD-Medien-Basisdaten Radio. Fast drei Stunden, jeden Tag - also eine gute halbe Stunde weniger als zur Jahrtausendwende, mögen Untergangspropheten hinzufügen. Deren Kritiker könnten allerdings entgegnen, dass derzeit in etwa so lange zugehört werde wie Mitte der neunziger Jahre.
Dennoch sieht Medienberater Klaus Goldhammer, Chef des Forschungsinstituts Goldmedia, beim UKW-Funk eine "schleichende Zeitbombe" ticken. Während Ältere dem Medium treu bleiben, besorgen sich Jüngere ihre tägliche Audio-Ration immer seltener via UKW. "Über 20 Prozent der Hördauer ist bei Unter-30-Jährigen weggebrochen", sagt Goldhammer. "Die suchen sich selbst ihre Audio-Angebote zusammen." Online recherchiert und heruntergeladen, offline auf dem Handy oder MP3-Player vorgehalten.
Goldhammer prognostiziert eine regelrechte Abwanderung der Hörer ins Web. Sein optimistischstes Szenario geht davon aus, dass 2012 rund 16 Millionen Bürger online zuhören, im pessimistischsten Fall wären es neun Millionen - zum Vergleich: 2007 waren es gerade 4,5 Millionen.
Empfangsgeräte vom Discounter
Die für etablierte Sender so bedrohlich erscheinenden IP-Empfänger sind für Goldhammer bereits Trendgeräte. Ein Versandhaus hat die Geräte zwischen Damenmode im Katalog angepriesen, auch ein Kaffeehändler hatte sie im Angebot. In einigen Jahren werden sie auch beim Lebensmittel-Discounter zu bekommen sein. Auch die WDR-Forscher sehen sie "kurz davor, in größeren Stückzahlen in die Haushalte einzuziehen".
Beim WDR ist man um Gelassenheit bemüht. "Ich glaube, dass sich nach einer ersten Phase der Neugier die Nutzung im Schwerpunkt auf die etablierten Radioangebote konzentrieren wird", sagt Hörfunkdirektor Wolfgang Schmitz. Ein IP-Radio-Hype wäre zudem aus seiner Sicht verfrüht. "Richtig an Fahrt gewinnen kann IP-Radio aus meiner Sicht erst dann, wenn sich mobiles Internet flächendeckend durchgesetzt hat und die Programme so auch im wahrsten Sinne des Wortes überall ein Tagesbegleiter des mobilen Hörers werden können."
Radio habe mehrfach auf Herausforderungen reagieren müssen: den Sendebeginn des Fernsehens, die Abkehr Jugendlicher von Service-Wellen in den achtziger Jahren und den Beginn der MTV-Epoche. "Mit diesen Veränderungen hat sich immer auch Radio verändert. Und Radio ist immer noch da", sagt Schmitz. Zusätzlich sei die Kölner Anstalt mit Channels für bestimmte Genre-Musik oder Wort-Formate im Netz, ebenso mit dem Online-Radiorecorder, den Hörer nutzen können, um Lieblingssendungen mitzuschneiden und als MP3 herunterzuladen.
Unerschütterlich gibt sich auch die private Konkurrenz. "Radio wird immer gehört", wischt Sebastian Artymiak, Referent beim Privatsenderverband VPRT, Sorgen vor der wachsenden Online-Konkurrenz weg. Die bringe sogar Vorteile. "Je mehr Sender ich habe, desto mehr Radio konsumiere ich auch - deswegen engagieren sich private Sender auch mit zusätzlichen Streams im Netz", sagt er.
Dass das Angebot im Netz anschwillt, dafür sorgen also auch die Privatsender selbst. "Wenn wir nicht die Web-Radios anbieten, dann macht das irgendjemand anders", erklärt Hans-Dieter Hillmoth, Geschäftsführer des hessischen Senderbetreibers Radio/Tele FFH. Sein Muttersender Hit-Radio FFH bietet online ein ganzes Bündel an Zusatzstreams mit unterschiedlichen Schwerpunkten an. Immer unter dem Label FFH digital, obwohl längst nicht alles selbst produziert wird. Manches entstammt einer Kooperation mit anderen Stationen unter dem Namen Digital 5 - Webstreams werden für die bundesweite Sendung erstellt und dann unter verschiedenen regionalen Sendermarken angeboten.
Medienberater Goldhammer wünscht sich allerdings noch mehr kreative Web-Angebote der etablierten Sender. "Beim personalisierten Online-Radio ist mir nicht klar, warum das nur Dienste wie Last.FM machen sollten."