150 Jahre Lourdes Die Wunderfabrik
Lourdes - Manchen treibt die reine Verzweiflung nach Lourdes. Da erfährt ein Ehepaar aus Bayern vor einem Jahr, dass der elfjährige Sohn an einem Gehirntumor erkrankt ist. Die Chemotherapie mergelt seinen jungen Körper vollkommen aus. Der Tumor ist nicht besiegt. Die Eltern buchen eine Wallfahrt nach Lourdes gegen ärztlichen Rat. Nur noch ein Wunder kann helfen. Heilige Maria, Mutter Gottes, hilf uns jetzt - und nicht erst in der Stunde unseres Todes. Doch der Bub erleidet einen schweren Rückfall. Kaum angekommen, muss die Familie für teures Geld wieder zurück in die Heimat fliegen.
Sechs Millionen Pilger kommen jedes Jahr in das 15.000-Einwohner-Städtchen am Fuße der Pyrenäen, davon mehr als 50.000 Deutsche. Dieses Jahr dürften es deutlich mehr werden. Denn die Marien-Erscheinungen der 14-jährigen Bernadette Soubirous jähren sich zum 150. Mal. Zudem lockt ein "vollkommener Ablass" der Sündenstrafen, den Benedikt XVI. Lourdes wallfahrenden Katholiken zum "Jubiläumsjahr" gewährt.
Am 11. Februar 1858 ist die kränkliche, ungebildete und aus bitterarmen Verhältnissen stammende Müllerstochter Bernadette mit ihrer Schwester und einer Freundin beim Holzsammeln am Gave, als sie an der Grotte Massabielle eine Erscheinung hat. Die Grotte, in der sich sonst nur Schweinehirten unterstellen, ist "bis zum Rand gefüllt mit dem rosig stetigen Licht einer Sonne, die sich verbirgt". So zeichnete der jüdische Schriftsteller Franz Werfel die Ereignisse auf, nachdem er 1940 auf der Flucht vor den Nazis einige Wochen in Lourdes Station gemacht hatte. In diesem Licht erscheint Bernadette "eine sehr junge Dame", "wie aus der Tiefe der Welt gerade hier an den Tag getreten".
Die Vision widerfährt Bernadette insgesamt 18-mal. Während der 16. Erscheinung am 25. März 1858 gibt sich die "junge Dame" zu erkennen: "Que soy era Immaculada Councepciou" - "Ich bin die Unbefleckte Empfängnis". Bernadette Soubirous: eine verträumte oder hysterische Göre? Ein pathologischer Fall? Die Zweifel sind groß. Doch der Stadtarzt Dozous, der von sich sagt, er sei ein "bedingungsloser Naturforscher", beobachtet das Mädchen während einer der Erscheinungen aus nächster Nähe, untersucht sie anschließend und konstatiert einen "mesmerisierten Zustand, den man neuerdings Trance nennt". Er kann an ihr keinerlei Anomalien feststellen.
Der "Heilige Bezirk" liegt gleich neben dem "Paradies"
Seit den Erscheinungen von Massabielle fließt der Pilgerstrom gen Lourdes. "Der heilige Bezirk" ist zu einem Mekka für Katholiken geworden. Die Heils-Sucher drängen zur Grotte, um zu Maria zu beten. Im Frühjahr sind es überwiegend Italiener. In langen Schlangen gehen sie durch das offene Halbrund des Felsens. Ihre Hände gleiten an der Wand entlang. Viele streichen sich nach der Felsberührung über den Kopf, als ob sie etwas von der übernatürlichen Kraft, die in dieser paranormalen Zone einst am Werk gewesen sein soll, in sich hineinreiben könnten.
Rechts von der Grotte zünden die Gläubigen Kerzen an, die bis zu anderthalb Metern groß und 30 Zentimeter dick sein können. Links der Grotte trinken sie aus der Quelle, die Bernadette auf Geheiß "der Dame" ausgegraben hat. Kanisterweise wird das Heilwasser nach Hause geschleppt.
Wer nach Lourdes kommt - die durchschnittliche Verweildauer beträgt drei Tage -, taucht ein in eine andere Welt: Das Profane scheint hier wenig Platz zu haben. Und wenn, dann in Form der 220 Devotionalien- und Souvenirläden. Es sind Supermärkte voller religiösem Tand. Marienstatuen, Rosenkränze, Engelchen, Kruzifixe, Kerzen und Kanister mit Lourdeswasser werden millionenfach angeboten. Kommerz dank Glaubenshoffnung.
Die religiöse Euphorie macht vor nichts halt. Allein schon der Ortsteil mit den riesigen Busparkplätzen, wo sich etliche der 233 Pilgerhotels mit 28.000 Betten aneinanderreihen, heißt hier "Paradies". Im benachbarten "Heiligen Bezirk" befindet sich die Grotte, direkt über ihr auf dem Hügel erhebt sich steil die Basilika der Unbefleckten Empfängnis, darunter und ihr vorgebaut die Rosenkranz-Basilika. Davor wiederum steht auf einem großen, von Arkaden eingesäumten Platz eine gekrönte Madonna. Und in der Unterwelt des Vorplatzes wurde ein Gottesraum eingerichtet - einer gigantischen Tiefgarage nicht unähnlich -, der 25.000 Menschen Platz bietet.
Segnung und Anbetung, Anbetung und Segnung
Ob in diesem "Heiligen Bezirk" paradiesische Zustände herrschen, lässt sich schwer sagen. Sicher aber ist: Hier erlebt man Katholizismus pur und geballt. Segnung und Anbetung, Anbetung und Segnung. Messen von früh bis spät. Allabendlich die Lichter-Prozession, jeden Nachmittag Sakramentsprozession. Niederknien an der Grotte, Rosenkranz beten, Ave-Maria-Singen, Glaubensbekenntnis, Beichte, Kommunion, Betrachtungen, Litaneien, Kreuzgang und Heilungen - die Kirche zieht hier alle Register.
Zur heutigen Jubiläumsmesse sind rund 50.000 Gläubige gekommen. Unter ihnen drei Dutzend, die mit dem Bayerischen Pilgerbüro unterwegs sind. Es ist ein bunt zusammen gewürfelter Haufen. Darunter Menschen, die vom Schicksal geschlagen sind: Ein Spastiker, der kurz nach seiner Geburt einen Gehirnschaden erlitt und seither schwer behindert ist. Ein Ehepaar, das sein Kind durch eine Fehlgeburt im sechsten Monat verlor.
An Wunder muss man nicht glauben - die gibt es
Eine Frau, deren Mann Alkoholiker war und sie geschlagen hat, während sie die vier Kinder durchbringen musste. Eine Koreanerin, die in Pjöngjang geboren wurde und 1948 im Alter von sechs Jahren mit ihren Eltern - engagierten Christen - vor den kommunistischen Machthabern fliehen musste. Darunter sind auch drei adelige Damen aus dem Münsteraner Geschlecht der Droste zu Vischering, die sich sonst auf Wallfahrten ehrenamtlich um Kranke kümmern, dieses Mal jedoch selbst spirituell auftanken wollen.
Intellektuell wird den Gläubigen einiges abverlangt. Sie müssen es akzeptieren, dass die von ihnen verehrte Jungfrau namens Maria die Mutter Gottes ist. Sie müssen darauf vertrauen, dass diese Maria auch heute noch ihre Fürsprecherin bei Gott sein kann. Sie müssen annehmen, dass diese Maria hin und wieder auserwählten Menschen wie der 14-jährigen Bernadette erscheint und ihnen Botschaften überbringt. Dies sind nur einige der "Geheimnisse des Glaubens". Nur an eines müssen die Gläubigen nicht glauben: an Wunder.
Denn Wunder gibt es. "Bien sûr!" - "Natürlich! Es gibt Wunder. Ich habe es selbst gesehen." So spricht Doktor Patrick Theillier, Chef des Medizinischen Büros im "Heiligen Bezirk", ohne den geringsten Zweifel zu zeigen. "Ich kenne die wissenschaftliche Debatte", sagt der zierliche Mann mit weißem, schütterem Haar und weißem Vollbart, "und ich stelle fest: Wunder kommen vor". Bei manchen Heilungen sei es unmöglich, natürliche Gründe zu finden. "Es gibt Ausnahmen vom Naturgesetz. Das ist in der Medizin möglich, denn die Medizin ist keine exakte Wissenschaft."
Beim Medizinischen Büro wurden in den vergangenen 150 Jahren 30.000 Heilungen gemeldet, die von den Betroffenen als Wunder erachtet wurden. Davon wurden 7500 auf Krankenakten hin genauer überprüft, davon wiederum 2500 von einem internationalen Expertengremium als tatsächlich medizinisch unerklärlich eingestuft. Diese Fälle werden der Heimatdiözese des Geheilten gemeldet. Die Bischöfe prüfen dann in einem jahrelangen Prozess, ob ein Wunder vorliegt. 67-mal hat die Kirche ein solches anerkannt. "Es sind 67 Wunder, doch Heilungen gibt es hier viel, viel mehr", sagt Theillier. Warum gerade hier? Theillier lächelt und zieht ratlos die Schultern hoch: "Wenn ich das wüsste. Es ist ein Geheimnis."
Leichter leben lernen
67 Wunder und ein paar Tausend Heilungen - bei Millionen von Besuchern und Kranken ist die Chance, dass einem ein Wunder widerfährt, somit äußerst gering. Irmgard Jehle, Leiterin der Gruppe des Bayerischen Pilgerbüros, leitet ihre Teilnehmer entsprechend geistig an: "Wir kommen hier her mit unseren Beschwerden und Gebrechen, doch durch unsere Pilgerfahrt verschwinden sie nicht einfach. Es geht darum, dass man lernt, mit ihnen umzugehen."
Und auch Marie-Catherine Freifrau Heereman, Leiterin des Malteser Lourdes-Krankendienstes, hält nicht viel von einem Wunder-Begriff im Sinne eines übernatürlichen Mirakels. "Wunder ist auch, wenn jemand für sich das Leben neu findet in einer scheinbar ausweglosen Situation. Wenn sich jemand wieder etwas zutraut, wenn er seine Situation nicht nur erleidet, sondern auch wieder gestaltet."
Der religiöse Katholik scheint dies in Lourdes finden zu können. Wallfahren, ein seelischer Reinigungsprozess. Bernhard Mussong, der Spastiker aus der Bayerngruppe, fährt seit 25 Jahren regelmäßig nach Lourdes. "Eine Heilung erwarte ich nicht", sagt er, "für mich ist nur die Grotte wichtig, hier kann ich intensiver beten als zu Hause".
Marien-Erscheinungen, Wunderheilungen, päpstlicher Ablass - die vermeintlichen Hauptattraktionen von Lourdes stellen sich gar nicht als solche heraus. Den meisten hier geht es vor allem darum, leichter leben zu lernen.