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TERRORISMUS »Aber nicht andere nur, auch uns töten wir«

Sie suchten den Tod, weil sie sich als Märtyrer begriffen; sie versprachen Erlösung und endeten wie im religiösen Wahn: Die RAF-Terroristen, die vor 25 Jahren in Stammheim starben, hatten manches gemeinsam mit den Selbstmordattentätern des Islam. Von Peter Homann
aus DER SPIEGEL 43/2002

Du hältst ein Buch versteckt und machst Notizen«, blaffte mich Gudrun Ensslin im Jahr 1970 voller Zorn an, als wir nach einer abenteuerlichen Reise Jordanien erreicht hatten, eine Reise in ein Camp der Palästinenser, aus dem ich beinahe nicht zurückgekehrt wäre. Das Buch war voller handschriftlicher Anmerkungen von mir, sehr verräterischen Anmerkungen ihrer Meinung nach. »Moby-Dick« von Herman Melville hatte mich schon viele Jahre auf meinen Fahrten quer durch Europa bis nach Nordafrika begleitet. Bei Hamburg an der Elbe aufgewachsen, hatte ich seit frühester Jugend Seefahrer- und Seeräuberromane gelesen. Ismael und Ahab, Queequeg und Starbuck, Stubb und Flask und all die anderen der Schiffsbesatzung nahmen mich mit auf eine Weltreise, in der das Meer und der Kampf des Menschen mit der Natur zum Spiegelbild der menschlichen Seele werden. Ich war 15 Jahre alt. »Moby-Dick« blieb bis heute immer in greifbarer Nähe.

Nach dem Tod der Terroristen in Stammheim erfuhr ich, dass diese Leviathan-Bibel auch von Gudrun Ensslin und anderen Gefangenen der RAF im Hochsicherheitstrakt gelesen worden war. Sie gaben sich untereinander Namen aus der Mannschaft des Walfängers. Andreas Baader wurde zu Ahab, zum Kapitän, seine Zelle zur Kajüte. Ich kannte die bunt zusammengewürfelte Mannschaft des Walfängers »Pequod« so gut wie die erste Generation der deutschen Terroristen. Auf solchen Schiffen hatten, so Melville, »Kannibalen, heimatlose Abenteurer und Gescheiterte« angeheuert, »Wesen, wie sie sesshaften Bewohnern gemäßigter Himmelsstriche nur im Dämmerlicht des Traumes erscheinen«. Und »es ging nicht mit natürlichen Dingen zu auf der ''Pequod''«, weiß der Dichter - auf dem Geisterschiff namens RAF auch nicht.

25 Jahre nach der selbstmörderischen Nacht von Stammheim sehe ich in der »Tagesschau« die ergrauten Köpfe der Juristen Otto Schily und Horst Mahler vor dem Bundesverfassungsgericht in zwei verschiedenen Rollen. Es geht um den NPD-Verbotsantrag. Zwei Gespenster der Vergangenheit, die keinen Blick miteinander wechseln. Ich zappe weg.

Beide kenne ich seit über 30 Jahren. Wir waren einmal Duzfreunde, damals, in der heroischen Epoche, als man sich eigentlich nicht kannte, aber überall Genossen waren. Über Otto kann ich nichts Nachteiliges berichten. Als wir uns später einmal zufällig in der Toskana trafen, schien die Sonne. Als Innenminister kann er mir nichts tun: Ich bin seit meiner Geburt deutscher Staatsbürger. Horst Mahler hatte 1970 offensichtlich die Absicht, mich als lästigen Zeitzeugen zu beseitigen: einmal im kriegerischen Jordanien mit der Horrorkompanie der späteren Roten Armee Fraktion und ein zweites Mal zusammen mit Andreas Baader in der Friedensallee in Hamburg-Altona. Ich sehe Mahler im Fernsehen als Rechtsanwalt mit Robe verkleidet. Er hat sich schon immer hinter Kostümen versteckt. Jetzt ist er Nazi und spielt ein altes Spiel, das auch Innenminister Schily kennt: »Der Rechtsstaat am Pranger«. Die Gespenster sind wieder da. Wegzappen hilft nicht.

Heute sind die meisten Bilder, Tatsachen, Deutungen über die Baader-Meinhof-Gruppe bekannt, ebenso die Besetzung der Rollen mit ihren toten oder noch lebenden Haupt- und Nebendarstellern. Wer die deutschen Terroristen waren, was sie wollten, wie sie wurden - das bleibt allerdings bis heute mehrdeutig und rätselhaft. Zu viele Legenden haben sich gebildet, zu viele Mythen verdecken die realen Ereignisse und Figuren. Immer mehr Kuratoren nehmen sich des »Projekts« Terror in Deutschland mit seinen Gesten der Todessehnsucht an, einige, um es als einen hip inszenierten Pop unter eine Generation zu bringen, der Stammheim so wenig sagt wie die Reichskanzlei oder der Führerbunker.

Seitdem die Twin Towers durch Gottesflieger zum Einsturz gebracht wurden und Selbstmordattentäter in Israel Angst und Schrecken verbreiten, sucht die westliche Welt nach Erklärungen für die sozialen und psychologischen Hintergründe solcher Verbrechen und findet sie gern im religiösen Fundamentalismus des Islam oder versucht sie aus der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit der meist jugendlichen Täter zu erklären, wenn nicht gar zu entschuldigen.

Doch hinter jedem armen, selbstmörderischen Novizen steht fast immer ein gut betuchter Apostel der Gewalt, dessen Bart sehr lang und sehr grau werden kann im Laufe eines angenehmen Lebens im sicheren Hinterland. Ihre Gesinnungsfreunde sammeln sich in Bünden und Geheimbünden mit so blumigen Namen wie »Freunde des Terrors« oder »Liebhaber des Martyriums«. Ein Blick auf unsere eigene ältere und jüngere Geschichte zeigt, dass dies nicht unbedingt eine Erfindung des Islam ist. Wir kennen unseren eigenen archaischen Fundamentalismus - Rassenwahn, Kriegsgeschrei und Weltuntergangsstimmung -, der Rest ist bekannt und gerade ein Menschenalter her.

Als die öffentliche Auseinandersetzung mit diesem Teil der deutschen Geschichte um 1970 eine neue Generation erreichte, fuhren wieder Verfolgungs- und Größenwahn - mit scheinbar gegensätzlichen Zielen - in einige junge Deutsche. Wieder zählten Juden, diesmal als Zionisten, zu ihren Hauptfeinden. So wurde die Geiselnahme israelischer Sportler 1972 auf der Olympiade in München durch ein Palästinenserkommando und der Tod der Israelis bei einem Befreiungsversuch als »materielle Vernichtung von imperialistischer Herrschaft« und »als Akt der Befreiung im Akt der Vernichtung« gefeiert. Hört sich an wie Goebbels im Sportpalast oder Mohammed Atta beim Anflug auf die Twin Towers, ist aber von Ulrike Meinhof.

»Liebhaber des Martyriums und des Terrors« nannten sie sich in Deutschland nicht. Im besten Seminar- und Beamtendeutsch sprachen Mitglieder der Baader-Meinhof-Gruppe von ihrer »Roten Armee Fraktion« als einem »Projekt«. Die kleine Gruppe der militant aktiven Terroristen stellte »Kommandos« zusammen. Wie die Palästinenser gaben sie ihnen den Namen eines toten Terroristen - eines Märtyrers. Nach Anschlägen mit vielen Opfern liebten sie es, »Bekennerschreiben« zu verfassen, in denen sie sich mit krausen Formulierungen der mörderischen Taten selbst bezichtigten und erklärten, dies alles sei zum Wohle der Menschheit geschehen.

Schon als sich die RAF herausbildete, hörte ich Gudrun Ensslin sagen: »Wer weiß, wer von uns in einem Jahr noch lebt.« Und wer den Märtyrertod sucht, für den hat der Tod den Schrecken verloren - oft auch der Tod unschuldiger Opfer. Bei den Attentätern vom 11. September stand in einer Anleitung für Märtyrer: »Du kommst nicht zur Erde zurück und pflanzt die Angst in die Herzen der Ungläubigen.«

Nach der Todesnacht von Stammheim vor 25 Jahren trieb »Wut und Trauer« als linke Gemütsbewegung Tausende auf die Straße. Im deutschen Film, in Sprech- oder Tanztheaterstücken ist seitdem ein neues Genre zu bewundern: Terroristenkitsch. Für die Opernbühne wird eine Collage aus Texten Gudrun Ensslins und des Andersen-Märchens »Das Mädchen mit den Schwefelhölzern« vertont. Im Film stirbt Baader, von Kugeln durchsiebt, wie ein Western-Held. Die Modebranche bedient sich bei der Präsentation einer »Prada-Meinhof-Linie« nachgestellter Fotos vom Morgen nach der letzten Nacht in Stammheim. Und als wäre ein Doppelevent geplant, kommt nur zwei Tage vor der Eröffnung der amerikanischen Starbuck-Coffeeshops in Berlin ein Film unter dem Titel »Starbuck Holger Meins« über den unglückseligen Terroristen Holger Meins in die Kinos der Hauptstadt.

Holger Meins war durch Hungerstreik zu Tode gekommen und von Ensslin und Baader »Starbuck« getauft worden - nach dem Ersten Steuermann in Moby-Dick von

Melville. Dort heißt es: »Starbucks Leib und Starbucks unterjochter Wille gehörten Ahab ...« und der Erste Steuermann hält einen Monolog über seinen Kapitän: »Meine Seele hat ihren Meister gefunden; sie ist überrannt - von einem Rasenden! Unerträglich quält der Stachel, dass Vernunft die Waffen strecken sollte auf solchem Schlachtfeld! Wohl ahne ich sein gottverlassenes Ende - und fühle doch, dass ich ihm dazu helfen muss.«

Ich hatte das zweifelhafte Vergnügen, die Hauptakteure der so genannten ersten Generation, einige davon lange vor der Entstehung der RAF 1970, gekannt zu haben: Da studierten sie noch oder lebten mit ihren Kindern, waren beruflich erfolgreich oder ohne berufliche Perspektive. Der eine oder andere klaute vielleicht mal im Supermarkt das Frühstück zusammen ("einklaufen"), aber kriminell waren sie nicht: Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof, Astrid Proll, Holger Meins und viele andere. Andreas Baader war noch ein Gesetze missachtendes Muttersöhnchen und Horst Mahler ein noch nicht ausgerasteter, etwas undurchsichtiger deutscher Spießbürger in Anzug und Anwaltsrobe, in dessen Juristenhirn es allerdings schon gesetzlos brodelte. Zwei Zeitgenossen mit nicht ganz harmlosen Gewalt- und Bestrafungsphantasien, wie sich später herausstellen sollte, als sich diese Phantasien bewaffnet hatten.

Ich habe einige von ihnen noch in den ersten acht Wochen nach der Baader-Befreiung im Jahr 1970 bis in ein palästinensisches Camp in Jordanien begleitet und

konnte miterleben, wie der Todestrip begann und ein kollektiver Irrsinn nach und nach fast jeden ergriff, ein Irrsinn, den heute immer noch einige für »politisch« halten.

In den Jahren nach der »antiautoritären« 68er-Revolte, als sich Kinder-läden, Putz- und Spontitruppen und allerlei bizarre K-Gruppen gründeten, konstituierte sich auch jene Gruppe, die sich später RAF - Rote-Armee-Fraktion - taufte und eine Revolution durch bewaffneten Kampf propagierte. Ihr Logo wurde ein Sowjetstern mit einer Heckler&Koch-Maschinenpistole. Sehr bald wurde es gefährlich.

In jenen Jahren galt es in der linken Szene als »unpolitische« und »falsche psychologische« Sicht, wenn ein Beobachter oder Beteiligter nicht nur Organisationen und ihre Ziele (die sich ständig änderten) kritisch wahrnahm, sondern auch die Haltungen der handelnden Individuen mit ihren Eigenheiten und ihrer Biografie. Wer dies tat, war schnell ein Renegat, ein »Counter-Schwein«, wenn nicht gar ein Agent des Verfassungsschutzes, des CIA oder, wie es mir passierte, ein Agent des israelisches Geheimdienstes. Denn ob fixe Idee, kommunistische oder faschistische Ideologie, Rassen-, Massen- oder religiöser Wahn, ob al-Qaida oder RAF - politisch von rechts bis links und quer durch alle Fundamentalismen tragen Sektenanhänger und religiöse Fanatiker den gleichen Wappenspruch vor sich her: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.

Nicht nur die linke, sondern die gesamte Öffentlichkeit hätte es damals nicht für möglich gehalten, welche abscheulichen Taten in den Köpfen eines Baader und eines Horst Mahler ausgebrütet wurden. Noch heute fällt es schwer, von den widerlichen Details zu reden, die ich damals mit eigenen Ohren gehört habe, als die beiden »Revolutionäre« sich unbelauscht wähnten. Genüsslich malten sie sich Foltermethoden aus, die sie anwenden wollten, falls ihnen deutsche Politiker als Geiseln in die Hände fallen sollten. Die Detailbeschreibungen verrieten intime Kenntnis der Methoden von Folterknechten, und wer Baader einmal näher kennen gelernt hatte, weiß, an welchen Körperteilen er seine Zangen und Elektroschocks mit echter Begeisterung anzuwenden gedachte und welche Drogen er für seine Experimente für geeignet hielt. Mahler träumte laut flüsternd von Gehirnwäschen und hat es damit später im Selbstversuch zum Experten gebracht.

Gewalt und Bestrafungsphantasien gehören zum Seelenhaushalt aller Terroristen zu allen Zeiten. Zwischen ihrer geschlossenen Welt und der Gesellschaft oder anderen Ländern gibt es keinen Dialog. »Die Konfrontation mit ... dem Regime kennt keine sokratischen Debatten, platonischen Ideale und auch keine aristote-lische Diplomatie. Vielmehr kennt sie den Dialog der Kugeln, die Ideale der Anschläge, Bombardierungen, Zerstörungen und die Diplomatie der Kanonen und des Maschinengewehrs ...« Dies Zitat könnte von den russischen Anarchisten des 19. Jahrhunderts stammen, von Hitler oder von der RAF. In diesem Falle stammt das Zitat aus einem Terroristen-Handbuch, das der Qaida zugeschrieben wird und in der Wohnung eines Islamisten in Manchester gefunden wurde. Unter der Lektion 17 werden unter dem Kapitel »Verhören und Ermitteln« auch viele Methoden der körperlichen und psychologischen Folter aufgeführt.

Wer damals nur andeutete oder gar laut dachte, dass im allseits diagnostizierten Linksterrorismus der RAF vielleicht auch anderes, Rechtsterroristisches oder religiös Fanatisches mitschwingt - nicht einmal die staatlichen Terroristenjäger des BKA verfolgten solche Gedanken. Ganz im Gegenteil: Neben den Mitgliedern der RAF waren sie diejenigen, die am heftigsten der Stadtguerrilla-Ideologie verfallen waren und alle Schriftstücke der RAF lasen, analysierten und ernst nahmen. Und die RAF - der innere Feind -, das war und blieb für Fahnder und für Sympathisanten der RAF der Linksterrorismus. Dieses Gerücht hat sich bis heute gehalten. Die Entwicklung Horst Mahlers etwa, vom deutschen Rotarmisten zum völkischen Antisemiten und NPD-Mitglied, hält so mancher Freund der Aufklärung für die einmalige Entgleisung eines fragwürdigen Charakters auf den immer noch sicheren Schienen, die aus dem Reich der Notwendigkeit ins Reich der Freiheit, in den Sozialismus, führen.

Andreas Baader war mir Mitte der Sechziger in der West-Berliner Künstlerszene begegnet. Anders als viele seiner Generation interessierte er sich damals nicht für Politik. Atomare Bewaffnung, die Verstrickungen und Verbrechen der Vätergeneration oder der Krieg in Vietnam - für Baader kein Thema. Ihn fesselte das »wirkliche« Leben, und das war zuallererst das eigene. Er prügelte sich gern. Seine Angeberei ging so manchem schwer auf die Nerven. Der intelligente Schulabbrecher behauptete, schon im 16. Lebensjahr als Hochbegabter Abitur gemacht und dann studiert zu haben und seitdem mit berühmten Philosophen zu disputieren.

Auf der Suche nach Erwerbsquellen kam er auf die Idee, mit Drogen zu dealen, 1966 in West-Berlin noch nicht verbreitet und im studentischen Milieu nur von Amateuren betrieben. So machte Baader die Bekanntschaft eines schwarzen Dealers. Bei einem Treff versuchte er den Afroamerikaner, der mit vollen Taschen gekommen war, zu »linken« und ihm Stoff ohne Barzahlung abzunehmen. Der Schwarze drückte ihm eine Waffe in den Magen und sagte den klassischen Satz aus dem Film »The Big Sleep« : »Soll ich meinen kleinen Freund sprechen lassen wie die Gangster im Kino?« Baader war schwer beeindruckt. Zehn Jahre später hatte er für eine Kampfschrift der RAF einen Titelvorschlag: »Die Knarre spricht«. Lange bevor die RAF gegründet wurde, hatte Baader erklärt:

»Wenn ich einmal lebenslänglich bekomme, bringe ich mich um. Aber dabei nehme ich noch ein paar Leute mit.«

»Menschlicher Wahnsinn ist oft katzenhaft schlau. Meint ihr, er sei verschwunden, so hat er sich vielleicht nur noch tückischer verwandelt«, so Melville über seinen Kapitän Ahab, in dessen Rolle Gudrun Ensslin später Baader sehen wollte. Sein Wahn fand bald ein Ziel: Eine Abenteuerreise in die Welt der Gewalt mit einer Geliebten, die ihm mit unbeirrbarer spiritueller Verführungskraft zur Seite stand, um immer neue Grenzüberschreitungen zu wagen. Vermutlich war sie die Einzige, die den Ahab des Alten Testaments kannte, der Melville als Vorbild seiner Figur diente. Der biblische Ahab wurde von seiner Ehefrau Isebel zum Verbrechen verführt.

Als ich Baader 1970 nach zwei Jahren wieder begegnete, jetzt mit Gudrun Ensslin am Arm, fand ich ihn genauso wahnhaft und kindisch wie früher und im neuen Kostüm eines Stadtguerrillaführers ziemlich lächerlich. Er blieb für mich immer der Kleine im Laufstall, der seine Mama mit Bauklötzen bewirft und die ihn dafür liebt. Einer, der bis zu seinem Ende der ewige Kinds- und Trotzkopf blieb: »Meine Mutter hat selbst Schuld, dass ich friere, warum zieht sie mir keine Handschuhe an!«

Baader und die vielen Frauen in der RAF! Er wäre zwar auch ohne RAF zum Gesetzlosen und vielleicht zu einem anerkannten Verbrecher gereift, aber nie der Kopf einer echt kriminellen Bande geworden. Vaterlos nur unter Frauen aufgewachsen, verwöhnt von Mutter, Großmutter und Tante, hatte er früh gelernt, die Familie seiner kindlichen Herrschsucht zu unterwerfen. Unter den Frauen der RAF (die er meistens Fotzen, manchmal Zofen nannte) lebte er wie bei Mama, Oma und der Tante: bösartig, sadistisch, komisch, mit überraschendem Humor und immer umsorgt. »Ist er nicht süß, der kleine Bengel?« Der frühe und entscheidende Kern der RAF war eine Amazonenarmee mit männlichem Begleitpersonal, und ganz vorneweg marschierte Baby Baader als Amazone mit Schwanz. Die Wumme, wie er das andere Ding nannte, immer im Hosenbund. Ensslin nannte ihn Hans, und sie war seine Grete. Ein Märchen.

Als mir zu Ohren kam, dass Gudrun Ensslin in der Inszenierung ihres privaten »antiimperialistischen Befreiungskampfes« - der Befreiung Andreas Baaders aus dem Knast - eine wichtige Rolle mit Ulrike Meinhof, der Mutter siebenjähriger Zwillingstöchter, besetzen wollte, versuchte ich einzugreifen. »Du willst die Fotzen an ihrer Emanzipation hindern«, schnaubte die Pastorentochter. Sie selbst hatte ihren Sohn als Kleinkind verlassen, um mit ihrem Hans emanzipatorische märchenhafte Abenteuer in der großen weiten Welt des antiimperialistischen Kampfes zu bestehen. Ulrike Meinhof nahmen sie bei ihrem nächsten Ausflug mit auf den Trip und tauften sie auf den Kriegsnamen Anna. Sie wurde das politische Aushängeschild - die »Stimme der RAF« - wie Ensslin sie nannte.

Ulrike Meinhof war Ende der sechziger Jahre eine erfolgreiche Journalistin. Sie schrieb Kolumnen für die Zeitschrift »Konkret«, ihre Features für verschiedene Rundfunksender waren gefragt, der Fernsehfilm »Bambule«, nach einem Drehbuch von ihr, war im Februar 1970 in Berlin abgedreht und sollte im Mai gesendet werden. Doch in privaten Texten waren bereits Sätze versteckt wie »meine Gesinnung wird als Kasperle-Gesinnung vereinnahmt, mich zwingend, Dinge lächelnd zu sagen, die mir, uns allen, bluternst sind«. In einer Kolumne über die in Frankfurt einsitzenden Brandstifter Baader und Ensslin hieß es: »Das progressive Moment einer Warenhausbrandstiftung ... liegt in der Kriminalität der Tat, im Gesetzesbruch.«

Anfang 1970 standen zwei von der Polizei Gesuchte als Hans und Grete vor der Haustür der Journalistin und legten sich in ihre Betten. Die Polizei nahm kurz darauf Baader fest, der noch Reststrafen abzusitzen hatte. Ein Spitzel hatte einen Tipp gegeben. Doch Hans fühlte sich nicht wohl. Knast ist kein Knusperhäuschen. »Grete« Ensslin bereitete die Befreiung ihres Geliebten mit Waffengewalt vor.

So begann es mit der RAF: Im Mai 1970 wurde der Strafgefangene Andreas Baader anlässlich einer Ausführung in das Institut für Soziale Fragen in West-Berlin, in dem die Journalistin Ulrike Meinhof auf ihn wartete, mit Waffengewalt befreit. Die Baader-Meinhof-Bande war geboren und gab sich den Taufspruch: »Nur in der Illegalität kann man die Illegalität erlernen.«

Andreas Baader wurde ohne besondere eigene Anstrengungen berühmt. Das gefiel ihm sehr, und er glaubte, was die Zeitungen über ihn schrieben. Ein selbstmörderischer privater heiliger Krieg gegen den Staat - gegen das Schweinesystem - unter Begleitmusik hoch motivierter Medien hatte begonnen.

Im Gefängnis lasen sie Jahre danach »Moby-Dick": die Jagd auf den weißen Wal, auf den Leviathan. Und sie lasen das Epos so, wie viele Bücher hinter Gittern in der Einsamkeit einer Zelle gelesen werden: mit größter Intensität und voller Assoziationen zum eigenen Leben. Das größte amerikanische Epos war wie geschaffen, die Gedankenwelt der RAF metaphysisch zu überhöhen. Im Beziehungswahn der Isolation lasen die Gefangenen der RAF die Jagd auf Moby-Dick wie eine Verklärung ihres eigenen Kampfes gegen den »Bullenstaat«, von dem sie als »Maschine« sprachen.

Die Welt an Bord eines Segelschiffes - ein gesellschaftlicher Mikrokosmos - war zusätzlich ein Motiv, das sie umweglos auf die geschlossene Welt der RAF übertrugen. Und wer den religiösen protestantischen Hintergrund von Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin mit ihren Kenntnissen des Alten und Neuen Testaments zur Ideenwelt des Dichters Melville in Beziehung setzt, sieht einige Vorstellungen der RAF-Führung in neuem Licht.

In Herman Melville und seinem genialen Hauptwerk lebt noch der Geist seiner calvinistischen Vorfahren, die als frühe Einwanderer mit Berge versetzender Glaubenskraft unwirtliche Landstriche den Natur- und Teufelsmächten abrangen und in blühende Provinzen ihres Gottesstaates verwandelten. Zu Melvilles Zeiten jedoch begann eine stürmische industrielle Entwicklung Nordamerikas, und bald zogen die alten europäischen politischen Krankheiten ein: Ausbeutung, Korruption und die Herrschaft des großen Geldes. Der Dichter Melville reflektiert dieses neue Amerika im Bild einer freien Persönlichkeit: Nur auf die eigene Kraft gestellt wie die Vorfahren, aber angesichts der neuen Zeit fast wie im Wahn, versucht Kapitän Ahab sich gegen die Mächte des Unpersönlichen auf einem unzähmbaren Meer zu behaupten, um den Leviathan zu erlegen. Er scheitert dabei tragisch und reißt die ganze Mannschaft in den Abgrund.

Es scheint, dass sich zumindest Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof in dieser romantischen und religiös motivierten vieldeutigen Grundhaltung wiedergefunden haben - von den Mitgefangenen sind keine Äußerungen zur Lektüre von Moby-Dick bekannt. Die düstere Grandiosität dieses Meisterwerks wird von ihnen in ihre eigene Vorgeschichte umgedeutet und mit neuem Vokabular terroristisch umgewertet.

So erklärte Gudrun Ensslin die Gefangenenbefreiung zur »Selbstverwirklichung in Autonomie«. Zusammen mit Baader hatte sie sich 1968 schon einmal selbst verwirklicht, als sie als Vorspiel der RAF in zwei Frankfurter Kaufhäusern Feuer legte. Im Prozess behauptete sie, das Feuer sei ein Fanal des Protestes gegen den Vietnam-Krieg. Ihr Vater, evangelischer Pastor aus dem Württembergischen, besuchte sie im Gefängnis und sagte in einem Fernsehinterview: »Für mich ist erstaunlich gewesen, dass Gudrun ... fast den Zustand einer euphorischen Selbstverwirklichung erlebte, einer ganz heiligen Selbstverwirklichung, so wie geredet wird vom heiligen Menschentum.«

»Lieber einen Richter umlegen als ein Richter sein« und »den 24-Stunden-Tag auf den Begriff Hass bringen« waren bald darauf die Losungen der Tochter. O heiliges Menschentum! »Man kann Opfer sein und trotzdem siegen«, sagte Gudrun Ensslin, kurz bevor sie in den Terrorismus aufbrach. »Du wirst am Ende Sieger sein«, steht in der Märtyrerfibel der Gotteskrieger vom 11. September.

Jahre später, im Stammheimer Gefängnis, verkündigte sie auf einem Kassiber an alle RAF-Gefangenen die Ankunft eines neuen Messias: »Die Moral der Erniedrigten und Beleidigten des Metropolenproletariats - das ist Andreas. An Andreas können wir uns bestimmen, weil er das Alte nicht mehr war, sondern das Neue: Klar, stark, unversöhnlich, entschlossen.« Dies ist zwar Kitsch, der richtig wehtut, aber mehr noch der totalitäre, religiöse Wahn einer Sekte, die einige Menschenleben auf dem Gewissen hat. Baader, der Führer, war als eine Art Gossen-Heiland auferstanden.

Ensslin predigte schon früh von der notwendigen »Identifizierung« mit ihrem neuen Gewaltmessias, nur dadurch könnten sie, die bislang Gesichtslosen - die einfachen Mitglieder in der RAF -, zu »einer eigenen Identität« finden.

Seit der Gefangenenbefreiung war von »Selbstverwirklichung in Autonomie« die Rede. Doch die Selbstverwirklichung stand von Anfang an unter schärfster Beobachtung von Polizei und Verfassungsschutz, später dann vom Bundeskriminalamt.

Und als es im Juni 1970 nach Jordanien ging, um im Nahen Osten Wilder Westen zu spielen, hing diese »Autonomie« bereits als Marionette an den Strippen diverser Geheimdienste: Dem der DDR und auch dem der Fatah. Als die Reisenden der späteren RAF 1970 in Jordanien ankamen, um bei den Palästinensern ein kurzes Volontariat in Sachen bewaffneter Kampf zu absolvieren, wurde als Erstes in einem Büro des Geheimdienstes in Amman Karteikarten mit Fotos, mit Klarnamen und entsprechenden Noms de Guerre der Deutschen angelegt. Jeder unterschrieb mit seiner echten Unterschrift einen Text in arabischer Schrift (den natürlich keiner lesen konnte), von dem es ganz allgemein hieß, so wurde übersetzt, man verpflichte sich, die palästinensische Sache zu unterstützen. Die Revolutionstouristen unterschrieben ohne Zögern. Ob diese Art Verpflichtung über nachgewiesene Waffenlieferungen der Fatah an die RAF hinaus auch in praktische Zusammenarbeit bei Aktionen in Westeuropa überführt wurde - keine Ahnung. Ursprünglich suchten die Palästinenser jedoch, so sagten sie, Persönlichkeiten, die sich in Westeuropa journalistisch, juristisch und propagandistisch für sie einsetzen könnten. Schon bald gehörten auch Flugzeugentführungen und Geiselnahmen zur Propaganda - zur Propaganda der Tat.

Ich habe eine kurze Phase der Entstehung der RAF und damit den Anfang vom Ende der Persönlichkeit Ulrike Meinhofs verfolgen können. Schon vor dem kurzen Trip nach Jordanien begann ihre totale Unterwerfung. In den Medien war die ehemalige Pazifistin auf Grund ihrer jahrelangen journalistischen Präsenz und eines Interviews zur Befreiungsaktion («... und natürlich kann geschossen werden!") zur terroristischen Hauptfigur mit angeblich krimineller Energie geworden. In Wirklichkeit spielte sie, völlig im Bann der Doppelführung Baader-Ensslin, eine Nebenrolle im großen Spiel der späteren RAF, in dem andere Regie führten.

Denn bevor einer im Sinne der Baader-Ensslin-Führung, »richtig tickt«, wie es in

deren Jargon hieß, musste alles unkontrol-

lierbare Private beendet werden. Die Unterordnung geschieht natürlich in »tiefster Freiwilligkeit«, wie Gudrun predigte. Die auf dem Sonderkonto eines Anwalts gebunkerte Summe von 40 000 Mark, die Ulrike Meinhof nach der Scheidung zugesprochen worden waren, wurde zum finanziellen Grundstock der späteren RAF. Davon wurden allerdings zunächst einmal teure Orientteppiche gekauft - von Baader und Ensslin zur notwendigen »Schallisolation« deklariert - und in einer konspirativen Wohnung der beiden im bürgerlichen Berlin-Wilmersdorf ausgelegt.

Ulrike Meinhof verließ ihre Kinder, wie es zuvor Gudrun Ensslin gemacht hatte. Zweifel und innere Unsicherheit am ganzen Unternehmen übertünchte sie in dem ersten veröffentlichten Manifest der RAF mit einer Sprache, die an imaginäre Jugendliche gerichtet war. Die Jugend selbst sprach ein anderes Idiom.

Vom »Geschwätz« der Linken war die Rede, von »Schleimscheißern«, von Sozialarbeitern, »diesem Lumpenpack«. Es folgte ihr bekanntestes Zitat: »Bullen sind Schweine. Der Typ in Uniform ist ein Schwein, das ist kein Mensch, und so haben wir uns mit ihm auseinander zu setzen« (aus ihrer Erklärung zur Befreiung von Baader). Doch bald benutzte sie ein Vokabular, das aus jüngster deutscher Kriegspropaganda stammte - »Vernichtung, Zerstörung, Zerschlagung« - oder aus dem brutalo-obszönen Wörterbuch eines Baader, der den Jargon des kriminellen Milieus für »proletarisch« hielt. Auch Gudrun Ensslin betete die sprachlichen Offenbarungen des Andreas mit Inbrunst nach.

Ganz am Anfang, als Ulrike Meinhof noch Zweifel hatte, Ende 1970 nach dem Jordanien-Aufenthalt, wollte sie raus aus dem Terror und rein in die DDR. Manfred Kapluck, ehemals Spitzenfunktionär der DKP und Freund Ulrike Meinhofs seit gemeinsamen illegalen Propaganda-Abenteuern der verbotenen KPD, wollte Hilfestellung beim Übertritt leisten. Im »Report Mainz« erzählte er am 7. Mai 2001: »Sie musste das aber dem Baader begreiflich machen. Und dann hat Baader gesagt: ,Du nicht'' und hat die Pistole gezogen und gesagt: ,Du bleibst hier.''«

Sechs Jahre später, nach einem Leben mit Bomben und Pistolen und vielen Toten, immer auf der Flucht und dann im Knast, regierte in den Zellen von Stammheim der helle Wahn. »Ulrike ... wirklich finster, ein Vampir zitternd vor Blutgier ... eindeutig gegen mich, weil gegen die Revolution«, schrieb Gudrun an Baader und machte zum Hungerstreik den Vorschlag, »jede dritte Woche wird sich einer von uns töten«.

Ensslin an Meinhof, die zögerte: »Du willst den Kampf Deinen Fotzenbedürfnissen - dem Überleben - unterordnen.« Baader selbst dachte nicht daran, durch Hunger zu sterben. Nach einem Anwaltsbesuch während des Hungerstreiks erbrach er Hühnerfleisch. Gudrun ließ die »Stimme der RAF« wissen: »Das Messer im Rücken der RAF bist Du ...« und Andy setzte nach: »Halt die Fresse ... oder geh endlich zum Teufel!« Er forderte »Selbstkritik«. Ulrike Meinhof darauf über sich selbst: »Eine scheinheilige Sau aus der herrschenden Klasse, das ist einfach die Selbsterkenntnis ...« Mit dieser Erniedrigung kündigte sich ihr Selbstmord in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 1976 an.

Die manichäische Welt der RAF war in »Schweine und Menschen« eingeteilt. Auch der eigene Tod war immer gegenwärtig. »Aber nicht andere nur, auch uns töten wir, wenn es Not tut«, hatte Gudrun Ensslin in der »Maßnahme« von Brecht unterstrichen. Es wurde nach ihrem Tod in der Zelle gefunden. »Der Körper als Waffe« wurde zur Parole im Krieg gegen das »Schweinesystem«, in dem fast die gesamte erste Generation der RAF selbstmörderisch umkam. Im Hungerstreik hatte Holger Meins geschrieben: »Entweder Schwein oder Mensch ... Kämpfend gegen die Schweine als Mensch für die Befreiung des Menschen ...«

Gut zwei Jahrzehnte später wurde in Hamburg-Harburg bei der Islam AG der Dschihad als Kampf der guten, der einzig wahren Menschen gegen die »Nachkommen der Affen und Schweine« eingeübt und die Todesflüge in die Machtzentren der Ungläubigen vorbereitet.

Peter Homann

war seit Mitte der sechziger Jahre Teil der Berliner Studentenbewegung, die sich nach dem Tod des Studenten Benno Ohnesorg 1967 radikalisierte. Homann kannte alle späteren Mitglieder der RAF der ersten Generation. Nach Baaders Befreiung aus dem Gefängnis reiste er mit Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und anderen nach Jordanien, weil er verdächtigt wurde, an der Aktion beteiligt gewesen zu sein. Homann setzte sich von der Gruppe ab, war in Gefahr, als Verräter erschossen zu werden, und stellte sich 1971 der Polizei. Die Anklage wurde fallen ge-lassen. Heute lebt Homann, 66, als Journalist in Berlin und in Südfrankreich.

* Mit Mitangeklagten Thorwald Proll, Horst Söhnlein.* Mit Co-Anwalt Hans-Christian Ströbele (l.) in Berlin-Moabit.* Gregory Peck in John Hustons Film »Moby Dick«, 1956.

Peter Homann
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