ARISTOKRATIE Adel steckt an
Frankreichs renommierter und kastenstolzer Diplomatischer Dienst, der sich immer noch als letzter Zufluchtsort nobler Etikette in einer Welt von Parvenüs empfindet, hat sich den Spott der Pariser zugezogen. Er muß den öffentlich bewiesenen Vorwurf über sich ergehen lassen, die britische Königin während ihres Staatsbesuchs in Frankreich mit einer falschen Gräfin und mit einem falschen Grafen beehrt und damit die Republik in eine höchst peinliche und lächerliche Lage gebracht zu haben.
Daß diese Geschmacksverfehlung in Paris wenige Wochen nach dem prunkvollen Besuch der Königin Elizabeth bekannt wurde, dankt Frankreich einem Unbekannten, der sich die Zeit damit vertreibt, dem Ursprung der glanzvollen Adelstitel Frankreichs nachzuspüren. Dieser Mann verbirgt sich hinter dem Pseudonym »Charondas«, hinter dem Kenner ein sehr bekanntes Mitglied des Pariser »Jockey Clubs« vermuten.
Charondas ist der Schrecken der verkappten Hochstapler, die in den exklusiven Zirkeln der großen Gesellschaft Eingang gefunden haben und auf den vornehmen Rennplatztribünen von Auteuil und Longchamps, auf den grünen Rasenteppichen der Golf- und Poloplätze und in den großen Salons von Paris mit glänzenden Namen, Titeln und staatlichen Würden prangen. Schon das erste indiskrete Buch des Charondas - »Ein Wappenrichter im Jockey Club« - stürzte eine Reihe adelsstolzer Prätentionen.
In der zweiten Maiwoche ließ nun »Charondas« zwei Hefte mit der goldgestanzten Aufschrift »Cahiers noirs« (Schwarze Hefte) in 999 Exemplaren erscheinen. Sie waren auf dem Pariser Markt der Eitelkeiten in wenigen Tagen vergriffen.
Die beiden Hefte enthalten auf fünfundsiebzig engbedruckten Kladdenseiten eine schwarze Liste der Falschmünzer im französischen Adel. »Die falsche Aristokratie Frankreichs umfaßt
zweifellos zehntausend Namen«, erläutert der Autor. »Der Liebhaber wird hier die größten unter ihnen finden. Es ist verhältnismäßig unwichtig, die Usurpatoren des Adels in jeder französischen Kreishauptstadt zu kennen. Man kann dagegen die 250 Familien, die den großen falschen Adel unseres Landes bilden, nicht ohne weiteres ignorieren.«
Was die »Schwarzen Hefte« für Pariser Feinschmecker zu einer besonders pikanten Lektüre machte, war die Tatsache, daß Charondas in seiner Liste auch zwei Namen Erlauchter aufführt, die in den glanzvollen Tagen des hohen britischen Besuchs im Zusammenhang mit Elizabeth II. und dein Prinzen Philip aufgetreten waren.
Der Präsident der Republik hatte sein Einverständnis gegeben, daß der Königin während ihres Aufenthalts in Frankreich eine Ehrendame aus der besten Gesellschaft der Hauptstadt beigegeben wurde. Die Wahl fiel auf die Ehefrau eines jüngeren Diplomaten, des Grafen de Crouy-Chanel, der einst den Vorzug gehabt hatte, zur Zeit des Regierungsantritts von Elizabeth II. Botschaftssekretär an der französischen Botschaft in London zu sein.
In jenen Tagen war auch die Gräfin de Crouy-Chanel am Hofe von St. James eingeführt worden und hatte den Krönungsfeierlichkeiten für die junge Königin als Ehrengast beigewohnt. Nichts schien daher natürlicher, als daß die Gräfin de Crouy-Chanel von dem Protokollchef des Quai d'Orsay, dem Comte de la Chauviniere, mit dem Privileg ausgezeichnet wurde, die Königin auf Schritt und Tritt begleiten und an allen Empfängen in ihrer nächsten Nähe teilnehmen zu dürfen.
Der genealogische Meisterdetektiv aber enthüllt nun, daß die Gräfin keine Gräfin ist. Charondas empfindet ihren Fall sogar als exemplarisch für die genealogische Maskerade des falschen Adels - »eine Geschichte, die einfach nicht zu glauben ist, weil hier maßlose Eitelkeit an Größenwahn reicht und schließlich zu Unehrlichkeit wird«.
Die Crouy-Chanels behaupten, vom ungarischen König Andreas III. abzustammen, und nennen sich Fürsten, Marquis und Grafen. Der Ehemann der Ehrendame nimmt zum Beispiel den Titel eines Grafen für sich in Anspruch. Charondas aber weist nach, daß alle Titel jener Familie einschließlich ihres Wappens und des Namens »Crouy« angemaßt sind und daß die sogenannten Fürsten, Marquis und Grafen de Crouy-Chanel niemals zum Adel Frankreichs gehört haben.
Die Hochstapelei begann im Jahre 1780, als der Amtsschreiber Jean Chanel aus Grenoble dem Marschall und Herzog von Croy einen Brief schrieb, in dem er behauptete, er sei sein Vetter und ein Nachfahre der ungarischen Könige. Der Herzog ließ des Amtsschreibers Anspruch prüfen, der prompt als das Hirngespinst eines Verrückten verworfen wurde. Trotzdem ließen die Chanels mehr als hundert Jahre nicht von ihrem eingebildeten Adel ab. Sie fühlten auch weiterhin das ungarische Königsblut durch ihre Adern rollen. 1821 befand der Kronrat des Königs Ludwig XVIII. abermals, daß die Chanels aus Grenoble dem Adelsstand niemals angehört hatten.
Daß die Räte des Königs sich mit den Chanels befassen mußten, rührte daher, daß der Amtsschreiber nach dem Ausbruch der Französischen Revolution von der Rechnungskammer in Grenoble, einer für die Steuerveranlagung, nicht aber für den Personenstand des Adels zuständigen Institution, ein Adelszertifikat erhalten hatte. Der Herzog von Croy prozessierte nach der Rückkehr der Monarchie gegen seinen fatalen »Verwandten«, und der Kronrat bestätigte, daß der Adel der Chanels nicht rechtens ist.
Trotzdem fuhren die Chanels fort, sich »de Croy-Chanel« zu nennen. Soviel Nackenstärke vor dem Königsthron belohnte der Bürger-König Louis-Philippe auf neuerlichen Antrag der unermüdlichen Chanels endlich damit, daß er das Gewohnheitsrecht auf den Namen »de Croy-Chanel« anerkannte. Aber selbst dieser König gestattete den Chanels nicht, den Adelstitel zu führen. Zunächst genügte ihnen auch der halbe Erfolg.
Wie sicher die Chanels sich bereits fühlten, zeigte die Keckheit, mit der sie sich. einige Jahre später an den weitab im sächsischen Gotha geführten Adelskalender wandten. Die Chanels drückten ihr Befremden darüber aus, daß sie nicht im »Gotha« vermerkt waren, und zwar als Seitenlinie des herzoglichen Hauses von Croy. Die deutschen Adelsarchivare in Gotha erschraken ob dieser Rüge und nahmen die Croy-Chanels mit all ihren sogenannten Titeln und Wappen im »Gotha« auf. Die adelsstolze Familie war freilich smart genug, sich nicht mehr »Croy«, sondern »Crouy« zu nennen, um dem Herzogshaus jede Zivilklage unmöglich zu machen.
In drei Generationen wieder bürgerlich
Angesichts einer solchen Vorgeschichte erhob sich nun in Paris die Frage, Was den Protokollchef des Quai d'Orsay, den Grafen de la Chauviniere, bewogen haben mochte, so eindeutig falschen Adel mit einer Hofcharge der Republik zu ehren. Auch darauf weiß der unerbittliche Adels-Detektiv Charondas eine Antwort: Der Adel des Protokollchefs, so enthüllt er unermüdlich, sei ebenfalls falsch.
Höhnt Charondas: »Jeder weiß, daß ein Protokollchef im Quai d'Orsay ein Diplomat von hohem Rang ist, der die Nuancen, die gesellschaftliche Stellung, den Rang und die Titel aller Personen zu beurteilen hat. Für dieses Amt war daher Emile-Edouard Dufresne wie geschaffen, der - nach den Jahrbüchern des Quai d'Orsay zu urteilen nicht genau weiß, ob er Marquis oder Graf de la Chauviniere ist.«
Charondas entdeckte, daß der Graf de la Chauviniere in Wahrheit nur Dufresne heißen dürfte. Ein Leon Dufresne war in der Zeit der Monarchie Assessor beim Staatsgerichtshof und stellvertretender Leiter des Archivs der Pairs-Kammer. »Der Adel ist ansteckend«, spöttelt Charondas. »Die Nachkommen dessen, der sich im Vorübergehen an den Pairs von Frankreich gerieben hatte, verspürten den Juckreiz, Edelleute zu werden.«
Emile Dufresne, Enkel jenes Archivars und Vater des jetzigen Protokollchefs, erscheint erstmals 1931 - also 60 Jahre nach dem Ende der Monarchie - in einem Adelskatalog als Marquis de la Chauviniere, ohne daß einer der französischen Monarchen des 19. Jahrhunderts einen Dufresne oder de la Chauviniere in den Adelsstand erhoben hätte.
Charondas: »Der Sohn des Protokollchefs wählte für sich den - im Rang geringeren - Titel Vicomte (Vizegraf), sein Vater hatte sich noch den vollen Grafentitel genommen. Deshalb besteht die Hoffnung, daß die Dufresnes binnen dreier Generationen in ihren- wahren Stand zurückfinden - in den bürgerlichen.«
...ein Edelmann zu sein: Falscher Graf de la Chauviniere