
Japan nach dem Beben: Land im Ausnahmezustand
AKW-Katastrophe Japaner fürchten sich vor dem Strahlentod
Tokio - Millionen Menschen in Japan leiden unter den Auswirkungen von Erdbeben, Tsunami und den Störfällen in den Atomkraftwerken an der Nordostküste. Laut dem Sprecher des Roten Kreuzes im Asien-Pazifik-Raum, Patrick Fuller, liefern sich die Rettungshelfer einen "verzweifelten Wettlauf mit der Zeit". Viele Zufahrtsstraßen sind wegen Zerstörungen, Erdrutschen und Überschwemmungen unpassierbar geworden. Rund 200.000 Menschen wurden aus der Umgebung des Störfall-Reaktors Fukushima in Sicherheit gebracht, sie werden von Spezialisten untersucht. Doch auch am dritten Tag nach der Katastrophe ist die Unsicherheit groß - und die Menschen sind verängstigt ( mehr dazu im Liveticker).
Die Gefahr, die von der erhöhten Strahlung ausgeht, ist abstrakt, die Bedrohung ist nicht sicht- oder spürbar. Die Menschen in der Unglücksregion erreichen widersprüchliche Informationen. Was bleibt, ist die Angst vor einer atomaren Katastrophe. Augenzeugen berichten von Flüchtlingsströmen, die sich auf den Weg nach Süden gemacht haben sollen, in den Supermärkten im Nordosten des Landes werden die Lebensmittel knapp. Millionen Menschen sind ohne Strom und Wasser.
In einem Umkreis von 20 Kilometern um das Unglückskraftwerk wurden Städte evakuiert, die Behörden brachten rund 200.000 Menschen in Notunterkünfte. Doch trotz der Anordnung, das Gebiet zu verlassen, verharrten rund 600 Anwohner in ihren Häusern. Die Regierung forderte sie auf, möglichst nicht ins Freie zu gehen.
Was ist in den einzelnen Blöcken des Atomkraftwerks Fukushima passiert?
- In Komplex 3 gab es am Montagmorgen (Ortszeit) eine Wasserstoffexplosion. Nach Angaben der Internationalen Atomenergiebehörde wurde der Reaktorbehälter dabei jedoch nicht beschädigt. Auch die Regierung gab an, dass die Stahlhülle des betroffenen Komplexes standgehalten habe und keine größeren Mengen Radioaktivität freigesetzt worden seien. Elf Menschen wurden verletzt.
- In Block 2 sank der Kühlwasserstand dramatisch ab. Dadurch ragten die vier Meter hohen Brennstäbe, die eigentlich komplett von Kühlwasser umspült sein müssten, 3,70 Meter in die Luft. Der Druck im Reaktor stieg immer weiter an. Um die Katastrophe zu verhindern, wurde Meerwasser in den Reaktor gepumpt. Der Betreiber hält es für möglich, dass es zu einer partiellen Kernschmelze im Reaktor 2 gekommen ist.
- In Reaktorblock 1 hatte es bereits am Samstag eine Wasserstoffexplosion gegeben, vier Menschen wurden verletzt. Ingenieure arbeiten daran, die Kühlung wieder herzustellen.
Das Atomkraftwerk Fukushima I besteht aus insgesamt sechs Reaktorblöcken. Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) in Wien erklärte unter Berufung auf die japanische Atomaufsicht, in den Reaktoren 2 und 4 werde noch immer an der Reparatur der Kühlung gearbeitet, während sie im Reaktor 1 wieder teilweise in Betrieb sei. Der Reaktor 3 sei komplett heruntergefahren worden. Beim Ausfall der Kühlung können Brennstäbe überhitzen und eine Kernschmelze auslösen.
Am Morgen um kurz nach 10 Uhr Ortszeit (2 Uhr deutscher Zeit) hatte ein Nachbeben der Stärke 6,2 die Erde erschüttert - und war auch in Tokio zu spüren. Das Epizentrum lag nach Angaben der US-Erdbebenbehörde USGS 140 Kilometer nordöstlich der Hauptstadt - also in Richtung der Atomanlagen in Fukushima.
Nach Angaben der japanischen Regierung könnte es in einem der Reaktoren von Fukushima eine teilweise Kernschmelze gegeben haben. Bislang erlitten 22 Menschen eine Strahlenvergiftung. Bis zu 190 kamen mit Radioaktivität in Berührung. Die US-Flotte hat damit begonnen, Schiffe aus der Region um Fukushima abzuziehen, nachdem eine erhöhte Strahlung gemessen worden war.
"Wir sind vorsichtig optimistisch"
Deutsche Reaktorexperten sind trotz der beunruhigenden Nachrichten von Reaktor 2 optimistisch, dass die befürchtete nukleare Katastrophe in Japan nicht eintritt. Vor allem der Faktor Zeit spielt dabei eine entscheidende Rolle. "Entscheidend sind die ersten 20, 30 Stunden nach der Schnellabschaltung", sagte Antonio Hurtado, Professur für Kernenergietechnik von der TU Dresden, und die seien inzwischen verstrichen. Wenn ein Reaktor abgeschaltet werde, würden anfangs sieben bis acht Prozent seiner Leistung als Nachzerfallswärme weiter produziert. Diese Menge gehe dann jedoch schnell zurück.

Japans Atomkatastrophe: Schreckensnachricht aus Fukushima
Die Meiler des Atomkraftwerks Fukushima waren am Freitag unmittelbar nach dem schweren Erdbeben heruntergefahren worden "Die kritischste Phase ist mittlerweile überwunden, wir sind daher vorsichtig optimistisch", sagte der Reaktorexperte. "Nach den uns vorliegenden Informationen beherrschen die Betreiber die Situation inzwischen besser."
Der Münchner Strahlenschutz-Experte Herwig Paretzke hält die befürchtete Verstrahlung großer Regionen inzwischen sogar für unwahrscheinlich. "Selbst wenn es jetzt noch zu einer großen Explosion und Freisetzung von Nukliden kommen sollte, wären die Folgen nicht so schlimm wie damals in Tschernobyl", sagte der Forscher vom Helmholzzentrum München. "Die Kernreaktion wurde ja schon vor Tagen gestoppt, und die dabei entstehenden besonders gefährlichen Nuklide haben kurze Halbwertzeiten und sind kaum noch vorhanden." Inzwischen würden in den Meilern, nach allem, was man wisse, keine gefährlichen Nuklide mehr produziert.
Das Meer spült Tausende Leichen an den Strand
Nach Einschätzung der Regierung handelt es sich bei Erdbeben und Tsunami um die schwerste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. In der Präfektur Miyagi wurden weitere Leichen an der Küste gefunden. Die genaue Zahl der Toten war zunächst unklar; die Polizei sprach von tausend Leichen in Onagawa in der Katastrophenregion Miyagi. Die Nachrichtenagentur Kyodo hatte davor von etwa 2000 Leichen berichtet. Es wird befürchtet, dass durch das Erdbeben und den Tsunami insgesamt mehr als 10.000 Menschen getötet wurden.
Mit Stand vom Montagfrüh deutscher Zeit hatten die Behörden 1627 Opfer identifiziert, 1720 Menschen werden noch immer vermisst. Japan hat die Europäische Union gebeten, bis auf weiteres keine Experten, keine Ausrüstung und keine Hilfsteams mehr ins Land zu schicken. Nach Angaben eines Sprechers der EU-Kommission vom Montag in Brüssel begründete die Regierung in Tokio dies mit der Schwierigkeit, die Helfer in das Katastrophengebiet zu bringen. Experten der EU-Behörden für Katastrophenhilfe stünden bereit, um mögliche Hilfe in die Wege zu leiten. Sie warteten nun zunächst ab.
Nach Angaben der Kommission haben bisher 20 EU-Staaten Material und Personal für Hilfe in Japan zur Verfügung gestellt. Dabei gehe es unter anderem um Wasseraufbereitungsanlagen, Notunterkünfte und Feldlazarette.
EU-Staaten rufen ihre Bürger zur Ausreise auf
Angesichts des Ausmaßes der Katastrophe gab es an den Aktienmärkten am Montag starke Kursverluste. Die japanische Notenbank pumpt eine Rekordsumme von 132 Milliarden Euro (15 Billionen Yen) in den Bankensektor, um die Märkte zu beruhigen.
Eine für Montag geplante dreistündige Stromabschaltung in Tokio und anderen Städten sagte die japanische Regierung ab. Kabinettssekretär Yukio Edano rief alle Bürger stattdessen zum Energiesparen auf. Sollte das nicht reichen, werde die angekündigte Stromrationierung in acht Präfekturen doch noch umgesetzt. Japan muss nach dem Ausfall einiger Atomkraftwerke Ausfälle bei der Stromproduktion kompensieren.
Die Botschaften mehrerer EU-Staaten legen ihren Bürgern nahe, Japan zu verlassen. So forderte die deutsche Vertretung die Bundesbürger in dem Krisengebiet und im Großraum Tokio/Yokohama auf, zu prüfen, "ob ihre Anwesenheit in Japan derzeit erforderlich ist, und wenn dies nicht der Fall sein sollte, ihre Ausreise aus dem Land in Erwägung zu ziehen". Dies gelte insbesondere für Familien. Die französische Botschaft in Japan gab einen ähnlichen Hinweis und verwies auf eine mögliche Explosion eines Reaktors in Fukushima, mit der eine radioaktive Wolke binnen Stunden Tokio erreichen könnte.