Alkoholkonsum in Russland Tödliches Wässerchen
Der Mann in dem Bett gleich rechts am Eingang des Krankenzimmers hat die Augen geschlossen. Er atmet ruhig. Die Schwester weiß nicht, ob er irgendetwas von dem, was um ihn herum passiert, mitbekommt. Dass er einen Schlauch im Mund, in der Nase und Kanülen im Arm hat. Die Ärzte der toxikologischen Abteilung in der Notfallklinik St. Petersburg kämpfen um sein Leben.
Der 86 Jahre alte Russe wurde wahrscheinlich zu spät eingeliefert. Er hat sich mit Fensterreiniger betrunken. Eine schwere Methanolvergiftung. Oleg Sajew, der diensthabende Arzt, lässt ihm literweise Alkohol einflößen: "Er bekommt so zwei Flaschen Wodka oder zwei Flaschen Whiskey oder anderen hochprozentigen Schnaps." Der Trick bei dieser Therapie: Die Methanolvergiftung kann durch das eingesetzte Ethanol (was nichts anderes als Alkohol ist) gestoppt werden.
Wahrscheinlich wird in keinem Land der Welt so exzessiv Alkohol konsumiert wie in Russland. Der Psychologe Jürgen Rehm und seine Kollegin Maria Neufeld von der Universität Toronto haben das Phänomen untersucht. Titel ihrer vor kurzem veröffentlichten Studie: "Alkoholkonsum und Mortalität in Russland seit dem Jahr 2000".
Rehm, ein kräftig gebauter Bayer mit rundem Gesicht, beschäftigt sich mit dem Thema schon seit mehr als zehn Jahren. Saufende Russen sind eine Art Jobgarantie für ihn. "Die Zahlen sind alarmierend", so der Forscher gegenüber SPIEGEL ONLINE. "Über 50 Prozent derjenigen Männer in der Altersklasse 15 bis 54 Jahre, die das Zeitliche segnen, sterben alkoholbedingt."
Bis zur Jahrtausendwende leugnete die russische Regierung, dass es im Wodka-Land überhaupt ein Alkoholproblem gibt. Die Todeszahlen wurden einfach nicht an die Weltgesundheitsorganisation WHO gemeldet, so sehr schämten sich die Russen. Warum das so war, ahnt man: Der männliche Teil des Volkes trinkt sich häufig zu Tode. "Das Rentenalter erleben über 40 Prozent der Männer nicht. Auch hier ist Alkohol der Grund", sagt Rehm. Da überrascht es keinen mehr, dass die Zahl der Alkoholabhängigen dreimal so hoch ist wie in der EU.
Das slawische Wort Wodka ist eine Verniedlichung von "Woda", zu deutsch Wasser. Der Konsum des hochprozentigen Wässerchens hat Tradition in Russland - und ist keinesfalls nur ein Problem der Unterschicht.
Ein ganz besonderes Gelage fand vor ein paar Wochen im Moskauer Vorort Pirogovo statt. Geladene Gäste, allesamt Millionäre, bekamen einheimische Spezialitäten präsentiert. Vierundzwanzig verschiedene Brennanlagen produzierten am Ort russischen Schnaps. "Es wirkt, als ob die Zunge an den Gaumen geklebt wurde. Kein schlechtes Gefühl, aber ein merkwürdiges. Die Lungen sind wie verbrannt. Und man fühlt sich, als ob man Gras gegessen hat und dann mit Alkohol nachspült", so einer der trinkfesten Oligarchen.
Um den Alkoholismus einzudämmen, erhöhte die Regierung Ende des Jahres die Steuern auf Hochprozentiges um dreißig Prozent, im Sommer verabschiedete sie ein Gesetz, das die Werbung für alkoholische Getränke drastisch einschränkt. Rehm plant schon seine nächste Studie.
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